019 - Der Sarg des Vampirs
wildes Tier sie angefallen.
Die Greisin saß schweigend an ihrem Platz am Fenster. Sie hätte einiges
dazu sagen können, aber sie blieb stumm, denn sie wusste, wer die beiden
Mädchen waren: die Töchter des reichen Herzogs de Avilla .
Sarkom hatte die Älteste, Carmen de Avilla , geliebt.
Sie aber hatte seine Gefühle verschmäht, und in der letzten Nacht war Sarkom
ein Opfer dieser Liebe geworden. Der junge Edelmann Castillo, ein Auserwählter
des Herzogs de Avilla , der seine Tochter Carmen mit
ihm vermählen wollte, hatte Sarkom durch einen Schwertstich getötet.
Die Tragik dieses Vorfalls war noch nicht allgemein bekannt. Im Haus des
Herzogs, der am Rand des Dorfes wohnte, war man von dem Vorfall und den
Ereignissen der schrecklichen Unwetternacht noch betroffen.
Die Zigeuner passierten das Dorf.
Später verlangte der Herzog, dass man nach ihnen suchte. Aber man fand
nicht mehr die geringste Spur von ihnen. Sie blieben wie vom Erdboden
verschluckt.
Von dem verborgenen Grab wurde lange nichts bekannt. Eines Tages – Jahre
nach dem Zwischenfall – stieß man darauf.
Im Dorf entwickelte sich die Legende von dem Vampir, der in jener Nacht
umgegangen war, der die Elemente beschworen und die beiden Töchter des Herzogs
aus Rache getötet hatte.
All diese Dinge ereigneten sich in den letzten Septembertagen des Jahres
1777. Genau 37 Jahre später – eine Generation hatte die Vorgänge jener Zeit
schon fast vergessen – kam es in demselben Ort, wiederum unter der Familie des
Herzogs de Avilla , zu einem merkwürdigen Todesfall:
Die Urenkelin des Herzogs starb auf dem Gut ihres Urgroßvaters an dem Biss
eines Vampirs. So lautete der offizielle Untersuchungsbericht, der schließlich
in den Archiven des Bürgermeisteramtes verschwand. Zeugenaussagen ließen
erkennen, dass am Tag zuvor Zigeunergruppen durch das Land gezogen waren, und
dass sie oben am Rand des kleinen Waldes gelagert hatten.
Die erste Parallele zum Jahr 1777 eröffnete sich, und die Menschen des
Bergdorfes erinnerten sich der Vorfälle von damals. Wahrheit und Legende
mischten sich, man glaubte, einige Zusammenhänge zu erahnen. Doch die wahren
Hintergründe erfasste niemand. Nur ein Mensch hätte für Aufklärung sorgen können:
Sarkoms Mutter – die Greisin.
Doch zu diesem Zeitpunkt war sie schon zwanzig Jahre tot. Ihr Wagen war von
einem schmalen Bergpfad abgerutscht und in die Tiefe gestürzt. Die Knochen der
Alten bleichten auf einem unwegsamen Felsplateau unter der Sonne Spaniens!
●
Der Tag war sehr heiß, und die beiden Mädchen, die mit ihren Fahrrädern
unterwegs waren, kamen nur langsam voran. Der Weg ging verhältnismäßig steil
aufwärts und das auf einer Strecke von fast acht Kilometern. Die Spanierinnen
kamen aus Zorita , einer Ortschaft, die nicht allzu
weit von der Sierra de Guadalupe entfernt lag. Sie wollten übers Wochenende dem
Marien-Wallfahrtsort Guadalupe einen Besuch abstatten.
Irene und Francesca erreichten einen schmalen Waldweg. Hier oben war keine
Menschenseele. Niemand begegnete ihnen.
»Wie lange wollen wir noch fahren?«, fragte Irene. Sie radelte voraus und
war mit ihren 22 Jahren die ältere der beiden Mädchen, hübsch und rassig.
»Noch zehn Minuten. Dann müssten wir den Wald durchfahren haben. Vielleicht
halten wir es auch noch ein paar Minuten länger durch. Am Waldrand rasten wir
dann.« Francesca hatte eine dunkle, angenehme, volle Stimme. Ihr
feingeschnittenes Gesicht, von blauschwarzem langem Haar umrahmt, hatte etwas
Puppenartiges.
Der Weg war teilweise so holprig, dass sie absteigen und ihre
schwerbepackten Fahrräder schieben mussten. Daher brauchten sie fast eine halbe
Stunde, um in die Nähe des Berges zu kommen. Der Wald und das Dickicht, die
struppigen Büsche und Stauden lichteten sich kaum vor ihnen. Matt schimmerte
dahinter das nackte Gestein der Felsen.
»Hier bleiben wir!«, erklärte Francesca unvermittelt. Sie stellten ihre
Räder ab und lösten die verschnürten Pakete.
Irene machte sich an einem der Proviantbeutel zu schaffen, ließ sich in das
kühle Gras fallen, breitete die Arme aus und rief: »Herrlich! Ich fühle mich
richtig wohl und finde, wir sollten wieder öfter solche Touren unternehmen.«
Francesca nickte. Irene hatte recht. Sie liebten das Abenteuer, die Natur
und das freie ungebundene Leben. Den Fahrten, die sie in unregelmäßigen
Abständen unternahmen, haftete ein letzter Rest von Freiheit und Romantik an.
»Vielleicht leben wir alle falsch«, sagte
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