0191 - Fenris, der Götterwolf
gekannt. Bill Conolly hatte zwar auch mitkommen wollen, doch eine Grippe war ihm dazwischengekommen, und so blieb er zu Hause.
Still stehenbleiben konnte ich nicht und ging ein paar Schritte und wieder zurück.
Die Kollegen vom Film betraten gemeinsam den Friedhof. Ihre Gesichter waren ebenso blaß wie die von Suko und mir. Eine ältere Frau fiel mir auf, die schon sehr oft zu mir hinübergeschaut hatte und immer dann wegblickte, wenn ich sie ansah. Auch Suko war sie aufgefallen. Er fragte mich: »Kennst du sie?«
»Nein.«
Ich hatte das Wort kaum ausgesprochen, als sich die Frau ein Herz faßte und auf uns zuschritt. Sie trug einen schwarzen Mantel, dunkle Strümpfe und Schuhe und auf dem Kopf einen Hut, der vorn an der Krempe einen Schleier besaß. Er reichte bis über die Augen. Ich schätzte die Frau auf über fünfzig Jahre. Obwohl sie den Schleier trug, sah ich, daß ihre Augen vom langen Weinen gerötet waren. In die blasse Gesichtshaut hatten sich scharfe Falten gegraben.
»Mr. Sinclair?« fragte sie leise.
»Ja, Madam, das bin ich.«
»Mein Name ist Emily Berger. Ich bin Nadines Tante. Vielleicht werden Sie wissen, daß Nadine…«
Ich nickte. »Natürlich, Mrs. Berger. Nadine hat sich hier immer sehr wohl gefühlt.«
»Ja, das hat sie.« Die Frau schluckte. »Und sie hat mich auch nie vergessen. Immer schrieb sie und rief an. Sie war auch hier, als mein Mann vor zwei Jahren starb. Seitdem bin ich Witwe. Selbst hatten wir keine Kinder, Nadine war praktisch unser Kind, wenn sie hier war. Und nun bleibt sie für immer hier«, fügte die Frau leise hinzu, wobei mir ihre Worte einen Schauer über den Rücken trieben.
Ich lenkte vom Thema ab und stellte Suko vor.
Mrs. Berger lächelte verkrampft. »Nadine hat mir viel von Ihnen erzählt. Was Sie alles getan haben, um sie… na ja, Mr. Sinclair, Sie wissen es ja selbst.«
Und ob ich es wußte. Nur zu gut erinnerte ich mich an die herrlichen Stunden, die Nadine und ich in einem kleinen Hotel verbracht hatten. Wir hatten uns damals versprochen, dies irgendwann einmal zu wiederholen. Es gab kein zweites Mal.
Das Schicksal hatte zugeschlagen!
»Wie lange wollen Sie in Avoca bleiben?« fragte die ältere Frau.
»Nicht sehr lange, Mrs. Berger. Man erwartet uns wieder in London. Sie wissen ja selbst, welch einen Job wir haben.«
»Ja, das hat Nadine erzählt. Zuletzt noch von der Teufelsuhr, die auf ihrer Verlobungsfeier verrückt gespielt hat. Ich habe sie immer gewarnt, sich zu binden. Vor ihrer Verlobung sprach sie noch mit mir und war unglücklich. Sie hatte diesen Menschen nicht geliebt, das wurde ihr plötzlich klar, und sie fragte mich um Rat.«
»Was haben Sie ihr gesagt, Madam?«
»Ich? Abgeraten, Mr. Sinclair. Nun ja, es ist nicht zur Verlobung gekommen, wenn die Umstände auch nicht eben glücklich waren.«
Da hatte sie recht. Ich erinnerte mich noch sehr deutlich an den Fall, der nicht einmal ein Jahr zurücklag. [2]
»Sie wird ihr Grab hier auf dem Friedhof finden, so wie sie es sich gewünscht hat. Hoffentlich hat sie ihre Ruhe.« Sie nickte uns zu.
»Wir sehen uns dann später.«
»Moment noch«, hielt ich Emily Berger auf. »Was hat das zu bedeuten, was Sie da von der Ruhe gesagt haben?«
»Ich?«
»Sie haben gehofft, daß sie ihre Ruhe hat«, stand Suko mir bei.
»Vergessen Sie es.«
Suko und ich tauschten einen Blick. Sollte etwa ein Geheimnis diesen Friedhof umgeben, oder war der Satz nur dahingesagt? Wir wußten es nicht, und es war müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Vielleicht sahen wir auch Gespenster.
Inzwischen hatten sich auch die Leute vom Filmteam versammelt.
Ich kannte keine der Personen. Die Frauen trugen Blumensträuße.
Die meisten Kollegen hatten schwarze Kleidung angezogen. Mrs. Berger begrüßte ein älteres Ehepaar, das soeben den Friedhof betreten hatte.
Dann wurde die Tür zur Leichenhalle geöffnet. Ein weißhaariger Mann erschien. Er trug einen schwarzen Kittel, der seidig glänzte.
Seine Gesichtsfarbe zeigte einen gelblichen Ton, als hätte er auch schon Zeit in einem Grab verbracht.
»Zur Beerdigung Nadine Berger bitte kommen«, sagte er.
Da Suko und ich ziemlich nahe der Treppe standen, waren wir die ersten, die die Leichenhalle betraten. Sie war ziemlich klein, nicht zu vergleichen mit denen auf Londoner Friedhöfen, wo Beerdigungen eine Art Massenabfertigung waren.
Mit Schaudern dachte ich dabei an den Fall der Medusa, der mich auf einen großen Londoner Friedhof geführt hatte. Dort
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