0193 - Der Mitternachts-Vampir
weinen.
Wie seine Mutter, so starrte auch er nur den Fremden an, der wie eine unausgesprochene Drohung in der Tür stand.
Schließlich, nach einer Zeit, die Gabi endlos vorkam, faßte sie sich ein Herz. »Was…was wollen Sie?« fragte sie flüsternd. »Wir haben nichts. Bei uns können Sie kein Geld holen. Wir sparen uns das Haus wirklich ab, und wir…«
Mit einem unwilligen Knurrlaut unterbrach der Eindringling die Frau.
Dann öffnete er den Mund, um seine Antwort zu geben. »Dich will ich«, sagte er.
»Mich?«
»Ja.«
Gabi war völlig durcheinander. Trotz des Wirrwarrs an Gedanken in ihrem Kopf, schälte sich ein Begriff immer deutlicher hervor.
Sittenstrolch. Das ist kein Einbrecher, sondern ein Sittenstrolch. Ja, so mußte es sein. Ein Sittenstrolch.
Mein Gott…
Sie wurde noch bleicher. Dieser Mann, der so düster aussah, würde keine Rücksicht nehmen. Daran glaubte sie nicht. Nein, der war gefährlich, der war grausam. Er würde sie…Gabi dachte nicht mehr weiter.
Dann traf sie der dritte Schock.
Der Unheimliche öffnete seinen Mund.
Weiß sahen die Zähne aus. Zu hell - und zu spitz.
Rechts und links im Oberkiefer entdeckte die Frau das Schreckliche.
Aus dem Kiefer wuchsen die beiden langen Hauer. Zähne, wie sie ansonsten nur Vampire hatten.
Und Vampire gab es doch nicht. Das war ein Märchen, eine böse Legende…
»Mutti, das ist ein Vampir!«
Die weinerliche Stimme ihres Sohnes riß Gabi aus ihren Gedanken.
Ja, Helmut hatte Recht.
Vor ihnen stand ein Vampir.
Ein Verkleideter, denn Gabi konnte nicht glauben, daß es die Blutsauger tatsächlich gab. Er mußte sich einfach verkleidet haben. Es gab keine andere Möglichkeit…
Und er kam näher.
Ein Schritt, ein zweiter…
Dabei lächelte er gefährlich und streckte seine Arme aus. »Ich will dich«, flüsterte er. »Dein Blut, denn du sollst einkehren in den Kreis meiner Bräute…«
Was der Vampir sagte, konnte die Frau kaum glauben. Es klang wie ein Märchen, eine böse Saga.
Blut!
Er wollte Blut - ihr Blut.
Gabi Leber raffte alle Kraft zusammen. »Geh!« flüsterte sie scharf. »Geh endlich. Ich will dich hier nicht sehen. Verschwinde von hier. Laß mein Kind und mich…«
Da traf sie der Schlag.
Der Vampir hatte nicht nur sich vorgewuchtet, sondern auch seinen Arm. Der Hieb war sehr hart geführt worden, und der schleuderte die Frau zu Boden, wo sie sich um die eigene Achse wälzte.
Der Junge schrie auf. Er sah seine Mutter liegen und das Blut aus ihrer Nase tropfen. Seine Angst wurde von dem Gefühl, seiner Mutter helfen zu wollen, noch übertroffen. Er sprang aus seinem Bett und dem Vampir in den Weg.
Der fauchte nur ärgerlich. Mit einem Schlag seines Handrückens schleuderte er den Jungen von sich. Helmut rollte bis an sein Bett und begann zu weinen.
Der Vampir kümmerte sich nicht um ihn. Für ihn war die Frau wichtig.
Die Frau und ihr Blut, denn sie sollte seine »Braut« werden.
Gabi Leber hatte sich wieder gefangen. Sie stemmte ihre Hände gegen den Teppichboden und rollte sich herum. Als sie auf dem Rücken lag, griff der Blutsauger zu.
Seine rechte Hand wühlte er in die Kleidung. Mit einem gewaltigen Ruck zog er Gabi hoch.
Sie wehrte sich. Mit beiden Fäusten schlug sie zu, traf das Gesicht des Mannes und spürte gleichzeitig, wie kalt und blutleer diese grauweiße Haut war.
Auch richteten die Schläge nichts gegen ihn aus. Der Vampir lachte nur. Es war ein häßliches fauchendes Lachen, das Gabi klarmachte, chancenlos zu sein.
Mit dem Kopf stieß der Vampir zu.
Gabi Leber spürte den scharfen Schmerz an der Stirn. Etwas explodierte in ihrem Schädel. Blitze und Sterne zuckten gleichzeitig auf.
In den Knien breitete sich ein weiches Gefühl aus, und sie schaffte es kaum noch, sich auf den Beinen zu halten. Allmählich gaben sie nach.
Gabi sackte zusammen.
Bevor sie zu Boden fallen konnte, griff der Blutsauger in ihr langes dunkelblondes Haar und hielt sie fest. Dann beugte er sich knurrend nach unten, wobei er gleichzeitig den Kopf so zur Seite drehte, daß der Hals frei lag.
Unter der straffen Haut lag die Ader. Und in ihr pochte das Blut. Es war heiß und warm, genau, wie er es haben wollte und haben mußte…
Das alles sah auch der kleine Helmut, den der Vampir vergessen hatte. Ein Kind konnte ihm wirklich nicht gefährlich werden, dachte er und achtete nicht darauf, als der Kleine aufstand. Er hatte eine geschwollene Wange. Aus seinen Augen liefen Tränen, die nasse Spuren in seinem Gesicht
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