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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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von Hamlet ins Kloster geschickt würde.
    Bisher hatte es diese außergewöhnliche schauspielerische Begabung noch nicht einmal zur Bühnenelevin gebracht. Doch nicht einmal in den trüben Momenten, da sie sich erinnerte, dass zwei Schauspiellehrer sie wegen mangelnder Begabung als Schülerin abgewiesen hatten, bezweifelte sie, dass sie Othellos Desdemona und Romeos Julia spielen würde. Und Fausts Gretchen auf eine noch nie da gewesene Art.
    »Schon bei dem Gedanken, immerzu mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, wird mir übel«, sagte Anna.
    »Du musst dir nur die richtigen Wände aussuchen, meine Gute. Aber ich fürchte, dazu hast du nicht genug Phantasie.«
    Victoria täuschte sich. Anna hatte durchaus Phantasie. Nur sparte sie die für besondere Gelegenheiten auf. Manchmal wurde selbst sie es leid, als bescheidenes Veilchen im Schatten heranzuwachsen. Dann brach sie in sehr ferne Welten auf, war dort eine Dame vom Feinsten, trug werktags teure Seidenstrümpfe und immer durchsichtige Unterwäsche. Den neuen hellgrauen Topfhut mit dem lila Seidenband holte sie mit der gleichen Nonchalance aus dem Schrank wie andere Mädchen ihre Baskenmütze. In Momenten der allergrößten Sündhaftigkeit trieb es die Jungfer Anna noch toller. Dann ähnelte sie wie ein Zwilling dem anderen der verruchten Halbweltdame auf der Zigarettenpackung der Marke Xanthia.
    Annas Vater rauchte neuerdings Xanthia – stets lag eine Packung auf dem Trommeltisch im Salon. Und manchmal konnte es geschehen, dass Anna, die nie vom geraden Weg abwich, eine geradezu körperlich quälende Sehnsucht nach Verruchtheit und Sünde spürte. Für Xanthia räkelte sich eine aschblonde Frau mit dem aktuellen Bubikopf der späten Zwanzigerjahre und der schimmernden Alabasterhaut einer Marmorstatue in einem schneeweißen Unterrock auf einer roten Ledercouch. Der Vamp hatte eine Knabenfigur und einen verschleierten Blick. In seiner Rechten hielt er eine lange schwarze Zigarettenspitze.
    Anna mit dem langen Haar, das sie wie ein Burgfräulein aus dem Mittelalter zu einer adretten Krone um ihren Kopf legte und von dem sie sich trotz der aufreizenden Fotos der Garçonnes in den Zeitungen für die feine Dame nicht trennen mochte, war meilenweit entfernt von ihrer Traumvorlage – nicht nur äußerlich. Sie war zu zurückhaltend, um auch nur eine der vielen reizvollen Rollen zu erwägen, die jungen Frauen von smarten Journalistinnen als Sprungbrett in die Moderne anempfohlen wurden.
    Das neue Selbstbewusstsein von Frauen, die bei jeder Gelegenheit von Freiheit redeten und die entsprechend freie Auffassungen vom Leben hatten, waren im Hause Sternberg ausschließlich die Domäne von Clara und Victoria. Allerdings war Alice mit den großen himmelblauen Augen, erst elf und doch schon Frau und wie der Schönling Narziss ins eigene Spiegelbild verliebt, ihre gelehrige Schülerin. Gleichgültig, ob die drei aparten Schwestern in Geschäften vor denen bedient wurden, die an der Reihe waren, ob sie im Palmengarten flanierten, in einem Kaufhaus Bewunderer fanden oder sich im Café an Komplimenten delektierten, die Aufmerksamkeit der Männerwelt und der Frauen Neid waren ihnen gewiss.
    Victoria und Clara zeigten schon morgens Bein. Jeden, der ihnen zuhörte, ließen sie wissen, Frauenbeine seien so erotisch wie beim Hahn der Kamm und beim Flamingo die rosa Federn. Sie trugen fleischfarbene Strümpfe aus Paris und zierliche Riemchenschuhe aus schwarzem Lackleder. Die Taillen ihrer Kleider waren in Hüfthöhe. Sie waren stolz auf ihre flache Brust und den schönen Schwanenhals. Erst ließ sich Victoria, anschließend Clara einen Bubikopf schneiden – der Nacken wurde beim Herrenfriseur ausrasiert. Frau Betsy verschlug es die Sprache. Ihre Töchter ließen jedermann wissen, sie würden sich nicht für die Männer anziehen, sondern ausschließlich für sich selbst. Beide zupften sie ihre Augenbrauen und benutzten schon tagsüber nachtblauen Lidschatten. Die Lippen waren purpurrot, die Fingernägel ebenso. »Als hätte einer mit dem Hammer draufgehauen«, befand ihr Vater.
    In jeder Gesellschaft brillierte Victoria mit der Laszivität der jungen Wilden. Bereits nach dem ersten Glas Sherry proklamierte sie, ein Frauenbusen wäre allenfalls noch ein Gewinn für Ammen aus dem Spreewald und Buschfrauen. Claras Röcke bedeckten kaum das Knie. Um ihre knabenhafte Figur zu halten, knabberte sie mittags Selleriestangen und nahm, wie ihre Mutter zu Recht vermutete, Abführmittel. Aus der

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