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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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ihre Art. Sie fanden Hindenburg komisch und behaupteten, sie könnten Gustav Stresemann, der Reichsaußenminister war, nicht von Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht unterscheiden. Eifrig nahmen sie jedoch am Geschick des deutschen Theaters Anteil und diskutierten, so sie einen Gleichgesinnten fanden, nächtelang über Ernst Glaeser, der mit seinem Stück »Seele über Bord« einen Theaterskandal in Kassel ausgelöst hatte; sie berichteten so anschaulich von Georg Kaisers Stück »Die Bürger von Calais«, dessen Uraufführung sie in Frankfurt als Siebzehnjährige erlebt hatten, als wären sie gerade aus dem Theater gekommen.
    Beide schwärmten für Jazz, Hindemith und Arnold Schönberg, was ihr Vater, der gern Operettenmusik hörte und die Importe aus Amerika als »Negermusik« bezeichnete, zu einer Bemerkung über die »intellektuelle Hochstapelei der Leute« veranlasste, »die sonst nichts im Leben erreicht haben«. Clara kam überhaupt nicht auf die Idee, ihrem Bruder mit Ratschlägen oder Vorhaltungen einen Tort anzutun. Schon gar nicht kratzte sie an der Würde des einzigen Mannes, den sie je in ihrem Leben lieben sollte. Was ihn bewegte, bewegte auch sie. Seine Trauer war die ihre.
    Auch Josephas Herz ließ keine Veränderungen zu, wenn es um Erwin ging. Er war immer ihr Liebling gewesen, von ihr schon als mutwilliger Vierjähriger vergöttert, wie ein Königskind im Märchen verwöhnt und so verhätschelt, als könnte ihn der leichteste Windhauch wie eine Pusteblume wegwehen. Josepha ließ sich von Erwins bleichem, spitz gewordenem Gesicht und den Schatten unter seinen geröteten Augen nicht in die Irre führen. Für sie war er immer noch ein Sieger, ein strahlender Engel, dem nun alle Welt unrecht tat. Dem Engel mit den gestutzten Flügeln, der, wenn er nicht weiterwusste, in seinem alten Kinderzimmer Schutz vor dem Chaos suchte, das er sich selbst schuf, kochte Josepha seine sämtlichen Lieblingsspeisen. Wie in den goldenen Zeiten der Überschaubarkeit stellte sie Schlag drei Uhr den Königskuchen mit Zitronat und den griechischen Sultaninen der Klasse I auf den Tisch, daneben das rotweiß gepunktete Schälchen mit Schlagsahne, das er als Kind immer für einen Freund hatte füllen lassen, den außer ihm niemand sah.
    Die von allen geachtete Herrschaftsköchin leerte die Aschenbecher, als wäre die niedere Arbeit Teil ihrer täglichen Pflichten. Hauptsache, Frau Betsy merkte nicht, dass ihr Sohn ein Kettenraucher war. Und auch die kleinen Schnapsflaschen räumte Josepha aus Erwins Zimmer, ehe sie die Mutter entdeckte – und genau den richtigen Schluss gezogen hätte. Nächtelang stopfte Josepha die Wäsche »ihres Buben«. In ebenso grauenhaftem Zustand waren seine Schuhe und Winterstiefel. Die Getreue ließ sie heimlich neu besohlen – bei einem Schuster in der Wittelsbacher Allee, wohin Madame Betsy nie kam. Zum Abschied steckte Fräulein Krause, seit sechsundzwanzig Jahren Herrin am sternbergschen Herd, »ihrem Jungen« einen gewaltigen Teil ihres Lohns zu. Er ließ es ohne ein Wort des Protestes geschehen.
    Am Tag des Abschieds umhalste der dankbare Erwin seine Komplizin und sagte so laut, dass es ein jeder hören konnte, den es anging: »Meine allerbeste, meine geliebte Josepha. Sie war immer die Einzige in dieser feinen Familie, die mich verstanden hat.« Das Lob war noch immer Musik in Josepha Krauses Ohren, und für einen kurzen, trotzigen Moment schaute sie ihre Chefin mit einem Blick an, der den Schluss zuließ, Madame Sternberg wäre an allem schuld.
    Sooft sich der ausgehungerte Künstler an den Fleischtöpfen der Familie labte, malte er für seine Halbschwester Anna ein Bild. Das Procedere war stets das gleiche. Anna wurde verlegen wie ein tollpatschiger Backfisch und stammelte zum Erbarmen, wenn Erwin ihr mit einer tiefen Verbeugung das Präsent überreichte. Sie verstand nichts von Kunst und lebte in der ständigen Angst, sie könnte mit einem falschen Wort des Lobes den Künstler kränken. Die Tuschzeichnungen und kleinen Skizzen, Karikaturen mit flottem Strich und beunruhigende Aquarelle in Farben, die das Auge blendeten, wurden von der stolzen Beschenkten in einer mit moosgrünem Samt bezogenen Mappe aufbewahrt. Jedes Blatt schien ihr ein Schlüssel zu einer Welt, die sie nur mit Erwins Hilfe würde entdecken können. Erwin war gerührt, als er bei einem seiner Besuche die Mappe auf ihrem kleinen Jugendstilschreibtisch liegen sah und die in Blockbuchstaben geschriebene Aufschrift »Erwin

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