02 Die Kinder der Rothschildallee
Perspektive der Eltern vergaß Fräulein Clara provozierend häufig, was geschehen war, ehe ihr der Vater die kleine Wohnung im vierten Stock überlassen hatte. Laut altem, immer noch bei rechtschaffenen Leuten geschätztem wilhelminischem Sprachgebrauch war nämlich die älteste Sternbergtochter ein gefallenes Mädchen.
Ihre Schwester Victoria fürchtete sich dennoch nicht, mit jedem Atemzug ihr Leben zu genießen. Mittags traf sie sich mit noblen Herren, denen sie phantasieentflammende Hoffnungen machte, zum Lunch à la mode. In vornehmen Restaurants flunkerte sie ihnen vor, in ihrem Elternhaus würden ausschließlich Weine serviert, die ein befreundeter Sommelier für die Pariser Hautevolee zu empfehlen pflegte. Erstaunlich anschaulich, weil sie weder das eine noch das andere je gekostet hatte, beschrieb sie die Wonnen von Coq au Vin und Froschschenkel in Riesling. Der Panther war ihr Lieblingstier. Sie liebäugelte mit einer Brosche im Schaufenster des teuersten Juweliers in der Stadt. Dort lag ein Panther aus Weißgold, mit Rubinen bestückt, auf einem schwarzen Samtkissen.
Victoria, mit dem Talent, sich selbst zu inszenieren, fand Hausmannskost überholt und das Hausfrauendasein eine »Fessel, die nicht mehr in die Zeit passt«. Ihrer Mutter, die fünf Kinder geboren und großgezogen hatte, sagte sie das, ohne zu erröten. Sie schwärmte für grünen Curry, den es nur in einem einzigen Geschäft zu kaufen gab, und fand Hummer, wenn »man ihn zu oft vorgesetzt bekommt, doch ein wenig fad«. Obwohl sich Victoria vor Schweinefleisch ekelte, das in ihrem Elternhaus selbst in Zeiten der Not nicht auf den Tisch gekommen war, ging sie oft in die Bürgerlokale von Sachsenhausen. Dort aß sie mit Männern, die sie als wichtig für ihr Fortkommen einschätzte, Rippchen mit Sauerkraut und trank Ebbelwein, den sie nicht vertrug. Mit einem Regisseur, der ihr eine Hauptrolle versprochen hatte, obgleich er selbst seit zwei Jahren ohne Engagement war, hatte sie sich sogar an eine Schweinshaxe gemacht. In der Nacht musste ihr die Mutter warme Leibwickel auflegen, und Victoria fragte sich, ob nicht vielleicht doch der Glaube ihrer Kindertage stimmte, dass Gott den Genuss von Schweinefleisch bei Juden umgehend mit dem Tod ahndet.
Die Köchin Josepha indes, die dem süßen Vickylein Zwetschenkuchen gebacken und Himbeerpudding gekocht hatte, behandelte die erwachsene Victoria immer noch mit dem Respekt, der der treuen Seele zukam. Taktvoll verschwieg ihr das snobistische Fräulein die Veränderungen der Zunge und was sie aß, wenn sie ihre langen Beine nicht unter den Familientisch stellte. Mehr noch: Victorias sanfte braune Augen wurden feucht, wenn, wie in früheren Zeiten, zu ihrem Wiegenfest eine Schokoladentorte mit kandierten Veilchen auf dem Geburtstagstisch stand. Dann dachte die eindrucksvollste Salondame, die das deutsche Theater je kennenlernen sollte, an Großtante Jettchen. Vicky war ihre Lieblingsnichte gewesen; zu jedem Geburtstag hatte sie ihr einen Teil aus ihrer wertvollen Schmuckschatulle geschenkt und, als Erinnerung an glückliche Zeiten, aus Baden-Baden Schokoladenpflaumen in Goldpapier kommen lassen. Jettchen war vor fünf Jahren gestorben, im Schlaf und ohne dass die Familie hatte Abschied nehmen dürfen. Victoria konnte deren Tod nicht verwinden.
Sie hatte ohnehin Schwierigkeiten mit der Endgültigkeit. Den Tod ihres ältesten Bruders Otto, der schon im dritten Kriegsmonat fiel, hatte sie als Sechsjährige erlebt und umgehend aus ihrem Gedächtnis gestoßen. Die Vergangenheit wurde im Schrank hinter schweren Wolldecken aus Notzeiten gelagert – eine vergilbte Fotografie, auf der das Gesicht des Bruders sich nicht mehr mit Victorias Erinnerungen deckte, und das schwarzrot gepunktete Kostüm, in dem die Sechsjährige als Glückskäfer am Vorabend des Weltbrands ihren ersten Theatertriumph feierte. Otto hatte den Kopfputz, einen breiten roten Haarreif mit schwarzen Hörnern, unmittelbar vor dem Einrücken für sie gebastelt.
Victoria dachte nur an den Bruder, wenn sie ihren Vater die Zeitung für jüdische Frontkämpfer lesen sah. Sobald sie Tante Jettchen erwähnte, stotterte sie. Vom Tod der französischen Theaterheroine Sarah Bernhardt im März 1923 und vom toten Rudolph Valentino, dem Filmidol aus Hollywood, berichtete sie, als wäre sie dabei gewesen. Sie bezeichnete den Verlust der beiden Künstler als »eine der größten Menschheitstragödien des zwanzigsten Jahrhunderts« und befand es als
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