02 Die Kinder der Rothschildallee
Vorerbin gemacht habe und er hoffentlich noch viele Jahre warten muss. Auf seinen Pflichtteil, natürlich.«
»Komm, sag nicht solche Sachen. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn du so von unserem Tod sprichst.«
»Wenn ich kein Testament gemacht hätte, Betsy, und dir unsere Kinder das Dach über dem Kopf versteigern könnten, ehe du von der Gemeinde die Rechnung für die Beerdigungskosten bekommen hast, müsstest du die Gänsehaut kriegen.«
Erwin lebte seit fünf Jahren in Berlin; dort hockte er in einem Hinterzimmer, trank zu viel Schnaps, wurde nie richtig satt und träumte in allen Farben, die den expressionistischen Malern heilig waren, die Welt würde eines Tages seinen Namen kennen. In sein Elternhaus kehrte Erwin nur dann zurück, wenn die finanziellen Zuwendungen aus Frankfurt aufgebraucht waren und er nicht mehr wusste, wie er in Berlin Kost und Logis bezahlen sollte.
Nach dem Tod seines Bruders Otto hatte sich der vielversprechende, vielseitig interessierte, intelligente, witzige, damals vierzehnjährige Erwin Sternberg dem Leben verweigert. Und seinem Vater. Er mochte nicht Stammhalter sein. Vaters Posamenterie, die Geschäfte, der Verlag interessierten Erwin nicht. Er wollte weder einen bürgerlichen Beruf, noch hatte er vor, für eine Familie zu sorgen. Das Abitur machte er nicht. Lehrstellen, die der Vater ihm hätte verschaffen können, lehnte er ab. Seine Ideale vergaß er so gründlich wie Caesars Kriegszüge und Ciceros Reden. Der Zionismus, der ihn als Jugendlicher begeistert hatte, erwärmte sein Herz nicht mehr. Vergessen waren die Kibbuzim in Palästina, wo er ein Leben in Gleichheit und Brüderlichkeit hatte führen wollen.
Erwin konnte sich sein Leben nur als Maler vorstellen, als ein Umjubelter, ein Begnadeter, wobei er einem Talent vertraute, das ihm seit der Quarta, als der Kunstlehrer den kohlenschwarzen Augen des Schülers Sternberg nicht hatte widerstehen können, niemand mehr bestätigt hatte. Fiebernd wartete Erwin auf den Tag seiner Entdeckung, und nichts beschleunigte seinen Herzschlag mehr als die Vorstellung, seine Bilder würden Höchstpreise erzielen, im Frankfurter Städel, in Berlin, London und New York hängen und sein Vater, dieser verbitterte und erbitternde Scharfrichter von Sohnestalent, wäre vor Scham gelähmt.
Bis dahin lebte der große expressionistische Maler Sternberg von der Hoffnung – und von Brot mit Senf und den Magenwärmern, die er aus einer Erbswurst in der Küche der gutmütigen Witwe Benantzky kochte; für junge Männer, die im Alter ihres in Frankreich gefallenen Sohnes waren, hielt Rosa Benantzky allzeit einen Platz in ihrem Herzen frei. Ihre Füße trugen kaum ihr Gewicht, und ihre Kittel ließen sich nicht mehr zuknöpfen, doch ihr Sofa mit drei selbst bestickten Kissen und einem vergilbten Eisbärfell war immer noch breit genug für zwei.
Je länger er in Berlin lebte, umso häufiger löste Erwin ein Bahnbillett dritter Klasse nach Frankfurt. Sein Vater war unglücklich, wenn sein schwieriger Sohn nach Hause kam, und noch unglücklicher war er, wenn er wieder abfuhr. Erwins Mutter erging es ebenso. Clara aber war so aufgeregt wie ihre kleine Tochter, wenn der geliebte Bruder mit seiner überbordenden Phantasie und einer Tüte Negerküsse vor der Wohnungstür stand und bei allen Heiligen schwor, er wäre auf einem weißen Ross über die Dächer geritten. Das Pferd hätte er an der Teppichstange im Hinterhof festgebunden, Claudette möge es bitte trockenreiben und sich die Perlen aus seiner Mähne holen. Erwin war so unbeschwert und witzig wie als Schulbub, war wieder der freche kleine Lauser, dem keiner gram sein konnte und dem ein jeder eine große Zukunft verhieß. Wer nicht den kritischen Blick seiner verzweifelten Eltern hatte, sah auch zwanzig Jahre später nicht, was Erwin sich angetan hatte, und dass morgens seine Hände zitterten.
Erwin und seine Zwillingsschwester Clara waren noch immer eine Einheit, verliebt ineinander wie Romeo und Julia, allergisch gegen Dummheit und noch empfindlicher, wenn einer ihnen zu befehlen versuchte. Bruder und Schwester brauchten sich nur anzuschauen, um zu wissen, was der andere dachte. Ihr Herz und ihr Hirn schlugen im gleichen Takt; sie sahen die gleichen Bilder und suchten nach der gleichen Form des Glücks. Über den Krieg sprachen sie nie, und nur wenn niemand dabei war, vom gefallenen Bruder. Für Politik und die wirtschaftlichen Probleme, die die Menschen bedrängten, interessierten sie sich auf
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