02_In einem anderen Buch
Ich schürzte meine Lippen
und wischte die Tränen aus meinem Gesicht. »Leb wohl, Daddy.«
Er zwinkerte mir zu. »Nun, die Zeit wartet auf niemanden,
wie wir sagen.«
Er lächelte noch einmal, dann fiel er in sich zusammen und
wurde zu einem schwarzen, immer kleiner werdenden Punkt.
Es war, als ob Wasser in einem Abfluss versickert. Ich spürte
einen erheblichen Sog, und um nicht in das Ereignis hineingezogen zu werden, machte ich schnell einen Schritt rückwärts, als
mein Vater schließlich mit einem sanften Plopp! in der Tiefe
der Jahrmillionen verschwand. Dennoch war ich nicht schnell
genug: Ein letztes Zucken des von meinem Vater erzeugten
Kraftfelds riss mir einen Knopf von der Bluse. Er sprang über
den Boden und verschwand in den letzten Wellen des Zeitstrudels. Auch danach schien die Luft noch für ein paar Augenblicke zu zittern, ehe alles wieder in jenen Zustand zurückkehrte,
den wir Normalität nennen.
Mein Vater war weg.
Am Abend saß ich im Konzert der Nolan Sisters mit einem
leeren Sitz neben mir und starrte zum Eingang, um zu sehen, ob
er vielleicht doch kommen würden. Als die Musik begann,
hörte ich kaum etwas davon mit Bewusstsein – in Gedanken saß
ich auf einem verlassenen Vorgebirge auf einem Planeten ohne
jegliches Leben, während ein Mann, der einmal mein Vater
gewesen war, sich in seine chemischen Bestandteile auflöste.
Dann dachte ich an die Eiweiße, die sich gewaltig vermehrt und
entwickelt haben würden und jetzt auf die Atmosphäre einwirken konnten. Sie ließen Sauerstoff entstehen und Wasserstoff
mit Kohlendioxid verschmelzen. Innerhalb von wenigen hundert Millionen Jahren würde es reichlich freien Sauerstoff
geben, und das aerobische Leben konnte beginnen. Ein paar
Milliarden Jahre später würde ein glitschiges Etwas an Land
kriechen.
Ein ziemlich unspektakulärer Beginn, aber Grund genug,
stolz auf meine Familie zu sein. Er war nicht nur mein Vater, er
war der Vater von allem und jedem. Als die Nolan Sisters
Goodbye Nothing to Say sangen, saß ich tief in Gedanken
versunken. Wie alle Kinder, deren Eltern gestorben sind, dachte
ich voller Trauer an die Dinge, die wir nicht getan oder gesagt
hatten. Aber am meisten grämte es mich, dass ich seinen Namen nicht kannte. Ich hatte vergessen, danach zu fragen.
34.
Der Brunnen der Manuskripte
FigurenAustauschProgramm: Wenn eine Figur eines Autors
verdächtig wie eine andere aussieht, dann ist sie möglicherweise dieselbe. Es gibt in der Buchwelt eine gewisse Ökonomie, und nicht selten werden Personen gebeten, andere
zu vertreten. Manchmal muss eine Figur im selben Buch eine andere spielen, was ziemlich komische Effekte ergibt,
wenn sie mit sich selbst sprechen muss. Andererseits hat
Margot Metroland mir mal erzählt, dass es ziemlich langweilig ist, immer dieselbe Figur sein zu müssen. Es sei
schrecklich, man fühle sich dabei »wie eine Schauspielerin,
die auf einer Provinzbühne in aller Ewigkeit immer dieselbe
Rolle spielen muss, ohne je Ferien machen zu können«. Als
Massen von frustrierten Buchmenschen zu illegalen SeitenLäufern geworden waren, wurde schließlich ein AustauschProgramm geschaffen, das Romanfiguren und anderen fiktiven Gestalten einen gelegentlichen Tapetenwechsel erlaubte. Alljährlich gibt es fast zehntausend Austauschaufenthalte, die allerdings selten zu größeren Veränderungen in der
Handlung oder beim Dialog führen. Der Leser ahnt selten
etwas davon.
DER WARRINGTON-KATER
– JurisfiktionFührer zur Großen Bibliothek (Glossar)
Ich schlief vorsichtshalber im Haus meines Bruders Joffy. Ich
sage »schlief«, aber das war nicht ganz korrekt. Eigentlich
starrte ich nur an die mit eleganten Stukkaturen geschmückte
Decke und dachte an Landen. In der Morgendämmerung
schlich ich mich aus dem Pfarrhaus, lieh mir Joffys Motorrad
und fuhr der Sonne entgegen nach Swindon. Das helle Licht des
neuen Tages erfüllte mich normalerweise mit neuer Hoffnung,
aber an diesem Morgen dachte ich nur an die unsichere Zukunft und Dinge, die noch nicht erledigt waren. Ich fuhr an
Coate vorbei durch leere Straßen zum Haus meiner Mutter an
der Marlborough Road. Ich musste ihr vom Tod meines Vaters
berichten, auch wenn es schmerzlich für sie war. Ich hoffte nur,
dass sie sich mit seiner letzten selbstlosen Tat trösten konnte.
Anschließend musste ich ins Hauptquartier fahren und würde mich Flanker ausliefern. Es war durchaus denkbar, dass mir
SO-5 glauben
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