02_In einem anderen Buch
Allerdings aus einer so unerwarteten
Richtung, dass ich vor lauter Angst schrie. Sie sprach aus meinem Gedächtnis zu mir. Es war, als hätte sich eine Schleuse
geöffnet. Der Tag auf dem Skyrail-Bahnsteig. Der Augenblick,
als ich Aornis zum ersten Mal sah. Ich dachte, es wäre nur ein
flüchtiges Hinsehen gewesen, aber so war es nicht. Wir hatten
mehrere Minuten miteinander gesprochen, während ich auf
den Zug wartete. Ich ließ mein Unterbewusstsein zurückwandern, und als ich die neu entdeckten Erinnerungen las, wurden
meine Handflächen feucht. Die Antworten waren alle längst da.
»Hallo, Thursday«, sagte die junge Frau auf der Bank und
puderte dabei ihre Nase.
Ich ging zu ihr hin. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Ich weiß noch viel mehr über dich. Mein Name ist Aornis
Hades. Du hast meinen Bruder getötet.«
Ich versuchte mir meine Überraschung nicht anmerken zu
lassen. »Das war Notwehr, Miss Hades. Wenn ich ihn hätte
lebend verhaften können, dann hätte ich das getan.«
»Seit über dreiundachtzig Generationen ist kein Mitglied der
Hades-Familie mehr freiwillig in Gefangenschaft gegangen.«
Ich dachte an die zwei geplatzten Reifen, das Skyrail-Ticket
und die anderen Zufälle, die mich auf die Plattform gebracht
hatten. »Manipulieren Sie vielleicht die Wahrscheinlichkeit,
Miss Hades?«
»Natürlich«, sagte sie, als der Zug in die Station glitt. »Du
wirst jetzt in diesen Zug steigen und anschließend versehentlich
von einem SO-14-Scharfschützen erschossen. Ist das nicht ein
originelles Ende? Von den eigenen Leuten erschossen?«
»Und was ist, wenn ich nicht in den Zug steige? Wenn ich Sie
stattdessen verhafte?«
Aornis kicherte über meine Naivität. »Der gute Acheron war
ein echter Hades, obwohl er seinen Bruder umgebracht hat –
worüber unsere Mutter immer sehr unglücklich war. Aber mit
einigen der wirklich teuflischen Fähigkeiten unserer Familie
war er nie ganz vertraut. Du wirst brav in den Zug steigen,
Thursday – denn du wirst dich an unser kleines Gespräch mit
keinem Gedanken erinnern!«
»Machen Sie sich doch nicht lächerlich!« lachte ich, aber Aornis wandte sich wieder ihrer Puderdose zu, und ich war in
den Zug eingestiegen.
»Was ist los?« fragte Wilbur, der mich verwirrt angestarrt
hatte, während meine Erinnerungen an Aornis zurückkehrten.
»Wiedererlangte Erinnerung«, sagte ich grimmig. Wieder
flackerten die Lichter. Das erste Notstromaggregat war zusammengebrochen. Ich sah auf die Uhr. Wir hatten noch sechs
Minuten.
»Thursday?« murmelte Wilbur mit zitternden Lippen. »Ich
habe Angst.«
»Ich auch, Will. Sei mal einen Augenblick still.«
Ich dachte an meine zweite Begegnung mit Aornis zurück.
Als sie in Uffington als Violet De'ath posiert hatte, waren wir
nicht allein gewesen, deshalb hatte sie nichts gesagt. Aber beim
nächsten Mal, in Osaka, als der Wahrsager vom Blitz erschlagen
worden war, hatte sie sich zu mir auf die Bank gesetzt.
»Schlauer Trick, das Zufallsprinzip so zu benutzen«, sagte sie
und hatte ihre Einkaufstüten so hingestellt, dass sie nicht umfielen. »Das nächste Mal kommst du nicht so billig davon. Ach, ja,
weil wir gerade dabei sind: Wie bist du aus dem Schlamassel mit
dem Skyrail rausgekommen?«
Ich hatte keine Lust, die Fragen zu beantworten. »Was machen Sie mit mir?« fragte ich. »Was stellen Sie mit meinem Kopf
an?«
»Eine einfache Erinnerungslöschung. Ich bin mnemomorph.
Meine besondere Stärke besteht darin, dass man mich sofort
wieder vergisst. Du wirst mich nie schnappen, weil du sofort
wieder vergisst, dass du mich je getroffen hast. Ich kann jede
Erinnerung an mich so schnell löschen, dass ich de facto unsichtbar werde. Ich kann hingehen, wo ich will, stehlen, was ich
will – und wenn ich will, kann ich im hellen Tageslicht morden.«
»Sehr schlau, Miss Hades.«
»Nenn mich doch bitte Aornis. Ich möchte, dass wir Freundinnen werden.« Sie strich sich die Haare hinter die Ohren
zurück und betrachtete ihre Fingernägel, ehe sie sagte: »Ich
habe gerade einen wunderschönen Kaschmirpullover gesehen.
Den gibt's in Smaragdgrün und in Türkis. Was glaubst du, was
steht mir besser?«
»Keine Ahnung.«
»Dann kauf ich sie mir eben beide«, sagte sie. »Die Kreditkarte ist eh nicht meine.«
»Genießen Sie Ihr Spielchen nur«, sagte ich. »Es wird nicht
ewig dauern. Ich habe Ihren Bruder erwischt – und Sie erwische
ich auch noch.«
»Und wie willst du das
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