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0203 - Die Geisterfrau

0203 - Die Geisterfrau

Titel: 0203 - Die Geisterfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Kurt Giesa
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vorwärts. Aber auch der irreale Schatten bewegte sich blitzartig. Nicole sah, wie er die Arme ausbreitete und nach ihr griff.
    Da schrie sie auf.
    Schrie, als Schattenarme sie berührten. Und dann riß ihr Schrei, der durch den Gebäudetrakt hallte, abrupt ab.
    Denn es gab niemanden mehr, der schreien konnte.
    ***
    Plötzlich erhob sich Lady Beatrice von ihrem Platz und eilte mit raschen Schritten zur Tür. Sir Winston, der am Fenster gestanden und hinausgeschaut hatte, wandte sich überrascht um.
    »Wo gehst du hin, Liebste?«
    An der Tür verharrte sie, griff nur zögernd zur Klinke.
    »Patrick wird jeden Moment den Gong schlagen und zum Essen rufen«, erinnerte Winston. »Es lohnt sich nicht, noch irgend etwas zu beginnen.«
    Irritiert wandte sich Beatrice um und sah ihn an. Es schien ihm, als erwache sie aus einem tiefen Traum. Merkwürdig, dachte er. Sie ist doch nicht der Typ, der schlafwandelt – und noch dazu am hellen Tag!
    »Hast du nichts gehört?« fragte sie brüchig.
    Sir Winston verneinte erstaunt. »Was sollte ich denn gehört haben?«
    »Mir war«, entgegnete sie, »als habe jemand sehr laut nach mir gerufen.«
    ***
    Bill Fleming hörte den Schrei. Der Stift, mit dem er sich auf einem Bogen Papier Notizen gemacht hatte, entfiel seiner Hand. Mit einem Satz sprang er hoch.
    Das mußte Nicole gewesen sein!
    Wie in der Nacht! durchzuckte es ihn. Aber diesmal würde er keine wertvollen Sekunden verlieren, weil er eingeschlossen war. Weit stand die Tür seiner Arbeitsklause offen, und deshalb hatte er auch den Schrei so laut und deutlich vernehmen können. Mit ein paar langen Schritten war er an der Tür und auf dem Korridor.
    Sein Arbeitszimmer befand sich am Ende des Ganges, der sich durch den ganzen Haupttrakt zog. Etwa in der Mitte mündete die Treppe. Und fast von dort mußte der Schrei gekommen sein.
    Aber der Flur war leer!
    Noch.
    Bill hastete zur Treppe. Dort blieb er stehen und sah sich langsam um. Unwillkürlich glitt seine Hand zur Tasche, kehrte aber wieder zurück. Sie war leer. Die Waffe lag wieder in seinem Zimmer.
    »Verdammt«, knurrte der Historiker.
    Schritte kamen heran, stampften die Treppe herauf. Bill wandte den Kopf und sah Prescott, den Techniker. »Was war los?« schrie der Mann.
    »Mademoiselle Duval hat geschrieen«, sagte Bill. »Sie muß hier oben gewesen sein. Aber sie ist spurlos verschwunden.«
    Prescott erschien kurzatmig neben ihm. »Vielleicht ist sie in einem der Zimmer«, stieß er hervor.
    »Ohne daß ich eine Tür hörte?« fragte Bill. »Ich hatte meine Tür offen, hätte es hören müssen«, ergänzte er, als er den verständnislosen Blick des Technikers bemerkte.
    »Vielleicht hat sie in einem Zimmer geschrien«, korrigierte Prescott sich.
    Bill machte ein paar Schritte vorwärts. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Irritiert sah er zum Fenster, dann wieder zur Wand. War er verrückt, oder sah er es wirklich?
    »Schauen Sie«, sagte er und deutete auf die Stelle.
    »Da ist ja die Wand dreckig«, knurrte Prescott. »So ein Mist…«
    »Das ist kein Schmutz«, murmelte Bill, die graue Stelle nicht aus den Augen lassend. »Sehen Sie die Umrisse!«
    »Tatsächlich«, murmelte Prescott überrascht. »Aber – aber das ist ja ein menschlicher Umriß! Wie ist das denn möglich?«
    Bill fror plötzlich.
    Er war einmal in Nagasaki gewesen, dort, wo es immer noch Reste von radioaktiver Strahlung gab. Er hatte sich jenen Ort angesehen, der 1945 von seinen Landsleuten zerstört worden war, restlos ausradiert. Er war in Trümmern herumgeklettert, wo der tödliche Blitz, heller als tausend Sonnen, getobt hatte. Wo Menschen innerhalb einer Picosekunde verdampft waren, als die kriegsentscheidende Atombombe explodierte.
    Und dort, wo Menschen von der entsetzlichen Hitze der atomaren Explosion einfach in Gas umgewandelt worden waren, hatte Bill etwas gesehen, was von ihnen übriggeblieben war. Es war das einzige, was noch an jene unglücklichen Opfer eines Wahnsinnskrieges erinnerte.
    Schatten. Schatten, ins Mauerwerk eingebrannt. Radio-Schatten vernichteter Menschen.
    Und hier an der Wand erkannte er den festgebrannten Schatten Nicole Duvals.
    ***
    »Mir ist übel«, murmelte Bill und kämpfte gegen das würgende Gefühl an, das in ihm aufstieg. Seine Knie zitterten. Totenblaß wandte er sich ab und lehnte sich an die Fensterwand.
    »Was ist mit Ihnen?« fragte der Techniker besorgt.
    Bill hörte ihn nicht. Nicole, dachte er. Nicole! Nicole!
    Ihr Schatten, festgebrannt an der

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