0203 - Die Geisterfrau
»Tut mir leid, Gnädigste, aber ich konnte ihren Verbleib leider noch nicht der heutigen Mittagszeitung entnehmen. Wünsche gesegneten Appetit.«
Der war Mylady fast schon wieder vergangen. »Fangen Sie jetzt auch schon in dieser häßlichen Art zu reden an?«
Zamorra zog es vor, nicht noch ironischer zu werden, wunderte sich aber nach ein paar Minuten doch, warum sich weder Nicole noch Bill am Tisch sehen ließen. Daß Bill über seiner Arbeit den Gong überhört hatte, konnte er sich nicht vorstellen, weil der Historiker ein großer Esser unter der Sonne war, der keine Mahlzeit freiwillig ausließ. Und Nicole? Auch wenn die beiden zusammensteckten, war Zamorra sicher, daß nichts Unrechtes geschah, weil er sie beide kannte und wußte, daß er ihnen vertrauen konnte.
»Es ist unhöflich, uns warten zu lassen«, stellte Lady Beatrice nach einer Weile fest. »Von diesem Mädchen habe ich nichts anderes erwartet, aber daß Mister Fleming auch nicht kommt…«
»Ich werde einmal nach den beiden schauen«, sagte Zamorra und erhob sich wieder, obwohl eine solche Aktion eigentlich Sache der Dienerschaft gewesen wäre. »Vielleicht ist beider Interesse an der Abstammung der Pendrake-Familie doch größer als der Hunger…«
Mit offenem Mund starrte Mylady ihm nach, als er den Speiseraum verließ und über den Gang schritt, um die Treppe nach oben zu benutzen, wo sich irgendwo Bills Arbeitsraum befinden mußte, in dem er alte Familienchroniken in verstaubten Büchern und Folianten studierte.
Zwei Etagen höher erreichte er den richtigen Korridor, bog richtig ab und sah am Ende des Flures eine Tür weit offenstehen. Den Schatten an der Wand sah er nicht, weil er zu schnell daran vorbeistürmte.
Er warf einen Blick in das offene Zimmer.
Da lagen Bücher und Papiere wild durcheinander. Eine dicke Schwarte war aufgeklappt, aber Zamorra verzichtete darauf, einen Blick auf den handgeschriebenen Text zu werfen. Familiengeschichten interessierten ihn ja sowieso nicht.
Wo waren Bill und Nicole?
Zamorra sah sich im Raum um. Auf einem Papierbogen lag ein Kugelschreiber, dessen Mine noch aufgeknipst war. Bill hatte es also eilig gehabt, den Raum zu verlassen. So eilig, daß er den Schreiber nicht verschlossen hatte, was er ansonsten gewohnheitsmäßig zu tun pflegte, weil er ein ordentlicher Mensch war.
Der Begriff »fluchtartig« drängte sich Zamorra auf, ohne daß er sagen konnte, woher das Wort in seinen Gedanken auftauchte. Bill hatte das Zimmer fluchtartig verlassen…!
Wohin?
Zamorra verließ es wieder, ohne etwas zu verändern, und ließ auch die Tür weit offenstehen. Als er die Treppe wieder erreichte, war ihm eine dunkle Stelle an der Wand aufgefallen, bloß sah er nicht näher hin und dachte sich auch nichts dabei.
Er stieg wieder nach unten. Eine Etage tiefer befand sich im angrenzenden Westflügel sein Zimmer wie das Bill Flemings. Sollte Bill es erst noch aufgesucht haben und dort hängengeblieben sein? Der Verdacht stieg in Zamorra auf, daß etwas geschehen war, das den Ereignissen der letzten Nacht glich. Hatte das liebe Gespenst Bill und Nicole irgendwo festgesetzt?
Bills Zimmer war nicht abgeschlossen. Zamorra trat ein, ohne anzuklopfen. Im Sessel kauerte Bill wie ein Häufchen Elend und brütete vor sich hin. Auf Zamorras Eintreten reagierte er nicht.
Neben ihm blieb der Franzose stehen, legte dem Historiker die Hand auf die Schulter und zwang ihn damit endlich, seinen Besucher wahrzunehmen. Müde drehte Bill den Kopf.
»Du?« fragte er, und es war, als frage er den Schloßgeist.
»Ich«, bekräftigte Zamorra unbehaglich. »Willst du nicht zum Essen kommen? Wir warten schon alle ungeduldig auf dich. Bist du krank?«
Aber krank sah Bill nicht aus. Dafür unfaßbar niedergedrückt und verzweifelt.
»Wo steckt eigentlich Nicole? Sie wollte doch zu dir!«
Wie unter einem Peitschenhieb fuhr Bill Fleming zusammen. »Nicole«, stieß er dumpf hervor. »Zamorra, du armer Teufel…«
Jetzt wurde Zamorra elektrisch. Vor Bill ging er in die Hocke und starrte in halbgeschlossene Augen, die denen eines Toten glichen.
»Was ist passiert, verdammt?«
»Nicole ist tot«, sagte Bill Fleming düster.
***
»Du bist betrunken«, behauptete Zamorra.
Aber Bill Fleming war nicht betrunken. Zamorra sah es. Bill war so nüchtern wie niemals zuvor in seinem Leben. »Nicole ist tot. Dieses verdammte Gespenst hat es endlich geschafft, einen Menschen zu ermorden.«
Zamorra schluckte. Er konnte es nicht begreifen, was
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