0204 - Herr der Grünen Hölle
er sich in all seiner Majestät seinen Anbeter. Zum ersten Mal sahen die Kannibalen den Götzen von Angesicht zu Angesicht, zu dessen Ehren sie die Opfer zum Altäre gezerrt und der die Seelen der Hingeschlachteten gefressen hatte.
Zamorra beobachtete die Metarmorphose mit kaltem Blick. Es war nicht das erste Wesen aus dem Höllenschlund, das sich hier in seiner wahren Gestalt vor ihm zeigte.
Aber seine Mitgefangenen, die von dem Höllenlärm selbst aus ihrem Tiefschlaf gerissen wurden, sie wurden grau im Gesicht, stammelten unvernünftiges Zeug oder fielen in Ohnmacht, als sie diese Perversion auf alles, was lebt, erblicken mußten.
»Meine Kinder mögen hören, was Huitzilopochtli ihnen zu verkünden hat!« dröhnte es endlich wie eine Trompete des jüngsten Gerichtes.
»Rede, o großer Schutzherr des Stammes!« wagte es erst nach einer kleinen Weile Asala, der Schamane, zu rufen.
»Meine Kinder mögen heute das große Fest zu meinen Ehren vorbereiten!« rief der Dämon. »Es soll ein Fest der Hundert Tage werden, daß ihr zu meinen Ehren feiert. Und an jedem Tag sollt ihr mir einen Gefangenen opfern. Ihr sollt ihm, wie es das Gesetz der hohen Adlerpyramide und das Ritual der Opferblutschale von Tenochtitlan vorschreibt, mit dem Messer aus dem heiligen Obsidian-Stein die Brust öffnen und das Herz herausreißen! Und das Herz sollt ihr mir weihen.«
»Ja, o Mächtiger«, scholl es im Chor wie aus einem Munde. »Wir wollen immer und jederzeit deinen Willen tun!«
Aber die unbegreiflichen Kräfte des Dämons waren so ausgerichtet, daß nicht nur die Indios, sondern auch die Gefangenen ihn verstanden. Ein jeder hörte die Stimme des unwirklich hin- und herwabernden Schreckensbildnisses in seiner Muttersprache reden.
Und sie wußten, daß dies ihr Todesurteil war. Wann würde die Wahl auf sie fallen, in wieviel Tagen würde man sie ergreifen und zum Altar des Blutgötzen zerren. Wieviel Tode würden sie noch vor Angst sterben, bevor die nervige Hand des Priesters den Obsidian zum Stoß hob?
»Für das Mädchen und den Mann aber, die ihr auf meinen Willen aufrecht stehend gebunden habt, ist dieser Tod zu leicht. Sie sollen mit ihrem Sterben unser Fest eröffnen!«
»Wie ist dein Befehl, Großmächtiger! Wie sollen sie sterben?« kam die Stimme des Schamanen.
»Das Mädchen wird den Tanz der Schlangen tanzen!« bestimmte der Dämon. »Der Mann aber, er wurde von den tapfersten Kriegern des Stammes langsam zu Tode gekämpft!« kam es im Chor. »Morgen beginnt das Fest. Das Fest der Hundert Tage. Die Seelen für Huitzilopochtli. Und das Fleisch wird die Stärke der weißen Menschen auf uns übergehen lassen! Ehre dem Huitzilopochtli. Sein Name sei gepriesen.«
»Auf morgen denn…« vernahmen sie noch einmal die Stimme ihres Abgottes, dann war die Erscheinung verschwunden.
»Morgen also!« dachte Professor Zamorra. »Morgen wird sich unser Schicksal entscheiden. Der Tanz der Schlangen. Was ist das für eine Teufelei? Vielleicht eine Art Gottesgericht. Und ich soll zu Tode gekämpft werden. Das kann unter Umständen eine Flucht möglich machen. Noch sind wir nicht tot. Noch ist Hoffnung. Vielleicht ist Michael Ullich entkommen. Der Junge macht nicht den Eindruck, als wenn er so einfach zu packen wäre. Und vielleicht hat er Glück und findet die Straßenbauer. Ich brauche Ruhe und Schlaf. Denn ich muß morgen bei Kräften sein. Ich habe es bisher immer geschafft… warum nicht auch diesmal. Ich muß mich darauf konzentrieren, den Dämon mit dem Amulett zu berühren. Er scheint nichts von der Kraft, die in Merlins Stern wohnt, zu ahnen. Sicherlich ein Höllendiener, der hier in der Provinz langsam versauert und dämonentechnisch nicht auf dem neuesten Stand ist. Wenn ich kämpfen soll, müssen sie mir die Hände frei machen. Ah, mir wird schon etwas einfallen. Nur schlafen… schlafen!«
Und mit der Kraft der Eigensuggestion und Selbsthypnose zwang er sich in Tiefschlaf. Nicole hatte er schon in dieser Art behandelt, auch sie schlief so tief, daß sie nicht einmal das Feuer eines Granatwerfers aufgeschreckt hätte.
Der morgige Tag würde die Entscheidung bringen.
***
Michael Ullich wußte, daß die Chancen völlig offen waren.
Er hatte fleißig in der Trickkiste gekramt und vier seine Verfolger unschädlich gemacht. Aber der letzte der kleinwüchsigen Wilden hatte ihn gestellt.
Lauernd wie zwei Raubkatzen umkreisten sich die beiden Gegner. Aus den Augen des Kannibalen sprühte Haß, seine Kiefer mahlten
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