0207 - Der Mann, der nicht sterben konnte
Der Mantel stand offen. Der Anzug darunter hatte sicherlich schon zehnjähriges Bestehen hinter sich, und auf der Weste sah ich kleine Löcher, wie Tabakasche sie hinterläßt.
»Hallo, Chefinspektor«, sagte ich.
Er nickte nur. »Was war los?«
Ich deutete auf den Wagen, der von Experten der Spurensicherung umringt war. »Da ist einer durch das Dach geflogen.«
»Aber kein Schiebedach.«
»Nein, das Dach des Rolls ist geplatzt.«
Tanner war von mir viel gewohnt, deshalb zeigte er sich auch nicht sonderlich erstaunt und fragte nur: »Wie das?«
»Es war eine geistige Manipulation. Jemand hat mit Materie gespielt, und dieser Jemand kann Materie verändern.«
»Das ist sicher?«
»Wie Ihr Hut, Kollege.«
»Wer war es?«
»Ich habe den Mann verfolgt und ihn auch entdeckt. Aber er machte mir die Molly.«
Tanner leistete sich ein aufforderndes Grinsen, so daß ich weiter berichtete.
Der gute Chiefinspektor bekam große Augen, aber er nahm mir jedes Wort ab.
Dann meinte er: »Was hatte dieser Kerl mit der Pelzmütze denn mit dem armen Chauffeur zu tun?«
»Das werde ich herausfinden.«
»Wissen Sie überhaupt, bei wem er angestellt war?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Bei Sir Reginald, dem Earl of Rankin.«
»Kenne ich nicht.«
»Der stammt aus Rochester. Alter Adel, leicht blasiert, trauert dem Empire und den Traditionen nach. Er lebt in einer anderen Welt und kommt nur nach London, um seine Geldangelegenheiten zu regeln. Heute war so ein Tag.«
»Und da hat es den Chauffeur erwischt.«
»Genau, John. Wobei ich mich allerdings frage, ob der andere es wirklich nur auf den Fahrer abgesehen hat und nicht auf seinen Arbeitgeber.«
»Das ist gar nicht so dumm. Haben Sie mit dem Earl bereits darüber gesprochen?«
»Er stellt sich stur.«
»Wieso?«
»Ich bin ihm wohl zu wenig. Zudem gefällt ihm mein Hut nicht. Er will nur mit dem Commissioner reden.«
Ich zog ein langes Gesicht. Diese Art von Zeugen hatte ich besonders gern, aber er mußte seine Aussagen machen, daran ging kein Weg vorbei.
»Nehmen Sie ihn sich vor, John?«
»Worauf Sie sich verlassen können. Wo steckt er eigentlich?«
»Der hat sich ins Café zurückgezogen. Zusammen mit einer älteren Lady, die er zufällig hier traf. Die kannten sich wohl von früher her.«
Ich grinste und erinnerte mich daran, daß ich die beiden zusammen gesehen hatte.
»Haben Sie was?« fragte Tanner.
»Ja, Hunger«, erwiderte ich. »Bis später dann…«
Ich ließ den Chiefinspektor stehen und bahnte mir einen Weg zum Café. Den Laden betrat ich nicht durch die zerstörte Scheibe, sondert nahm den normalen Eingang.
Lady Sarah saß nicht mehr dort, wo wir gesessen hatten. Sie hatte den Platz gewechselt. Steif wie ein Ladestock hockte ihr der Adelige gegenüber. Den Schirm hatte er zwischen seine Beine gestellt, die Hände lagen über dem Knauf. Die Melone saß kerzengerade auf seinem Kopf, die Mundwinkel waren leicht nach außen gebogen, und vor ihm stand ein Glas mit Whisky.
»Da sind Sie ja, John«, rief Lady Sarah und deutete auf einen freien Stuhl. »Wir haben schon auf Sie gewartet.«
»Sie haben es!« stellte der Earl richtig.
»Auch egal. Nehmen Sie, Platz, John.«
Im Café herrschte ein unbeschreiblicher Trubel. Der Besitzer hatte die Tische und die Stühle wieder aufstellen lassen. Er verkaufte sogar gut, die Gäste hatten nach dem Schrecken großen Durst bekommen. Allerdings wurde sofort kassiert, da ging er auf Sicherheit.
»Das ist Oberinspektor John Sinclair, von dem ich Ihnen erzählt habe, Sir«, stellte Lady Sarah mich vor.
Der Earl nickte nur. Seinen Namen nannte er nicht. Als Lady Sarah ihn mir sagen wollte, winkte ich ab. Ich ging dafür sofort in die Vollen und schoß eine ganze Breitseite gegen den blasiert wirkenden Earl ab. »Können Sie sich eigentlich vorstellen, daß der Anschlag nicht Ihrem Fahrer, sondern Ihnen gegolten hat?«
Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, da öffnete mein Gegenüber zum erstenmal den Mund. »Was unterstehen Sie sich, Oberinspektor? Ich bin Sir Reginald Earl of Rankin.« Er sprach im Brustton der Überzeugung, so daß ich grinsen mußte.
»Und wenn Sie der berühmte Kaiser von China wären, hätte der Anschlag trotzdem Ihnen gelten können.«
»Nein.«
Das klang abweisend. So etwas war ich gewohnt und blieb trotzdem am Ball. »Welchen Grund kann denn die Gegenseite gehabt haben, Ihren Fahrer zu ermorden?«
»Das weiß ich nicht. Als sein Dienstherr bin ich über seine privaten Belange
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