022 - Die wandelnde Tote
vor?«, erkundigte sich Navok. Seit Solan sein Gesicht mit einem Hautregenerator behandelt hatte, stand er dem Techno wohlgesonnen gegenüber. Er konnte förmlich spüren, wie die verbliebenen Abschürfungen unter dem Sprühverband heilten.
»Ich werde mit euch an die Oberfläche kommen«, entschied der Techno. »Ich wollte schon immer wissen, wie es im Freien wirklich aussieht. Das ist meine letzte Chance.«
Aruula wollte protestieren, aber Solan winkte ab. »Ich bin dem Tod geweiht, Aruula«, sagte er traurig. »Ich spüre schon jetzt, wie mein Körper krank wird. Es wird nicht mehr lange dauern, dann…«
Ihm stockte die Stimme. Aruula legte ihre Hand auf seinen Arm.
Gemeinsam gingen die drei zum Fahr- stuhlschacht. Aruula hatte sich mit Kleidung aus dem Depot der Technos eingedeckt. Hinter der zerstörten Schleuse nahm sie nun ihre Stiefel und das große Beidhandschwert auf. Sie verstaute es auf ihrem Rücken in einer Halterung, die sie aus dem Tornister der Mensch-Taratze gefertigt hatte.
Dann fuhren sie mit der Kabine nach oben, ins Parkhaus.
Sie führten Solan an den Rand des Ruinenviertels, von wo er die Schönheit der freien Natur betrachten konnte. Als sich die Abenddämmerung näherte, setzte der Techno seinen Helm ab und entledigte sich des Schutzanzugs.
Für kurze Zeit erfüllte sich sein Lebenstraum: Er konnte das Leben im Freien so erleben, wie es sonst nur die Oberflächenbewohner kannten, konnte den Wind und die letzten Strahlen der Sonne auf seiner bleichen Haut spüren.
Doch nicht lange. Nach wenigen Minuten schon wurde seine Brust von ersten Hustenanfällen geschüttelt. Aruula nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich.
»Es ist wundervoll, den Wind zu spüren«, krächzte er mit belegter Stimme. Seine Blicke schienen jeden Grashalm aufzusaugen. »Und wie einzigartig es hier riecht! Ihr ahnt gar nicht, wie schön ihr es hier oben habt.«
Aruula betete seinen Kopf an ihre Brust und strich ihm sanft über den kahlen Schädel. »Wir wissen unsere Freiheit mehr als alles andere zu schätzen«, versicherte sie ihm.
Kurz bevor es zu Ende ging, drückte sie ihm einen kuss auf die Lippen. Solan lächelte schwach. »Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Moment noch schöner werden könnte, aber ich habe mich getäuscht. Ich danke dir für alles. Leb wohl.«
Die Barbarin wollte etwas erwidern, doch da war der Körper in ihren Armen bereits erschlafft.
Navok, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, trat an sie heran. »Sei nicht traurig. Er ist mit einer Zufriedenheit gestorben, die sich die meisten Todgeweihten nur wünschen können.«
»Ich weiß«, nickte Aruula, die trotzdem einige Tränen aus den Augenwinkeln wischen musste.
Zusammen mit dem Nosfera schleppte sie Solans Leichnam in den Bunker und verschloss den Zugang mit einem Steinhaufen. Als sie damit fertig waren, brach bereits die Nacht herein. An Schlaf war für keinen von beiden zu denken. So entzündeten sie ein Lagerfeuer und unterhielten sich, bis der Morgen graute.
***
»Ich habe gesehen, dass Maddrax den Hafen an Bord eines Schiffes namens Santanna verlassen hat«, berichtete Aruula. »Ich muss herausbekommen, wohin er verschleppt wurde. Dann werde ich seinem Weg folgen.«
»Ich würde dir gerne helfen«, bedauerte Navok, »aber lange Schiffsreisen sind nichts für mich. Ein Nosfera braucht genügend Platz, um sich notfalls bei Tag verbergen zu können. Und genügend… Nahrung, um die Reise zu überstehen. Außerdem habe ich in Britana noch einiges zu erledigen.«
Aruula sparte sich Fragen nach den Details.
»Du hast genug getan, den Rest schaffe ich schon alleine«, versicherte sie ihm. »Aber es stimmt mich traurig, dass sich unsere Wege trennen. Wir haben viel zusammen durchlebt.«
Navok musterte sie nachdenklich. Wie immer, wenn ihm offene Sympathie entgegen gebracht wurde, wurde er unsicher. Der traurige Schimmer in seinen Augen bewies jedoch, dass er ähnlich fühlte.
»Wer weiß«, krächzte er. »Vielleicht kreuzen sich unsere Lebenslinien eines Tages erneut. Die Welt ist kleiner als wir denken.«
»Hoffentlich«, gähnte Aruula. »Dann finde ich Maddrax bestimmt wieder.«
Kurze Zeit später schlief sie ein. Sie erwachte erst wieder zur Mittagszeit. Der Nosfera war längst fort. Aruula wunderte sich nicht darüber. Navok war kein Mann für lange Abschiedszeremonien…
***
EPILOG
Emroc wusste nicht, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Es war kein Geräusch gewesen, doch irgendetwas
Weitere Kostenlose Bücher