0231 - Wenn es Nacht wird in Soho
blinzelte und fluchte alle Dämonen sämtlicher Höllen zusammen. Sein Zeitgefühl war alles andere als intakt, und er wähnte sich noch im frühsten Morgendämmern. Die Helligkeit, die durch die Fensterjalousien hereindrang, ignorierte er geflissentlich.
»Kerr!« knurrte er in die Telefonmuschel, als es ihm endlich gelungen war, den Hörer von der Gabel zu trennen und die festgeklebte Zunge vom Gaumen zu lösen.
»Ein wunderschönes High Noon wünsche ich meinem herzallerliebsten Schatz«, meldete sich eine sarkastische Stimme, die nur Babs gehören konnte. »Solltest du die Frechheit besessen haben, immer noch in den Federn zu liegen, dann laß dir gesagt sein, daß unser gemeinsamer Freund Zamorra inzwischen wahrscheinlich mehr zu den Toten als zu den Lebenden zählt !«
Es dauerte eine Weile, bis Kerr den Inhalt ihrer Worte erfaßte.
»Häh?« machte er dann und ließ sich die ganze Geschichte ausführlich erzählen.
Als er genug erfahren hatte, legte er einfach den Hörer wieder auf und befreite sich aus seinem Bett. Im Eiltempo zog er sich an, verzichtete dabei sowohl auf eine Waschung als auch auf die fällige Rasur und bestieg Minuten später den vor der Haustür parkenden Vauxhall.
Dann gab er Gas.
Bis eine laute Stimme in ihm fragte, warum er sich eigentlich so beeilte. Sein Leben war schließlich nicht unmittelbar bedroht…
***
Nicole wartete vergeblich auf Kerrs Auftauchen. Statt dessen trafen jedoch wenigstens die von Babs ebenfalls losgeschickten Streifenwagen und ein großer Ambulanzwagen ein.
Vor der Telefonzelle stieg Nicole in eines der Patrol cars zu, das nach ihren Instruktionen sofort losjagte.
Fünf Minuten später stoppten sie vor dem heruntergekommenen Haus, aus dem die Französin geflüchtet und in dem auf Zamorra geschossen worden war.
Sofort schwärmten die Bobbys aus. Einige waren mit Maschinenpistolen bewaffnet und verfügten über eine Funkausrüstung.
Babs hatte in der kurzen Zeit ganze Arbeit geleistet.
Was man von Kerr nicht behaupten konnte. Wo blieb er?
Nicole mußte unten vor dem Haus warten. Sie hatte der Polizei eine genaue Wegbeschreibung gegeben. Das Einsatzkommando konnte sein Ziel gar nicht verfehlen.
Unten vor der Eingangstür warteten zwei weißgekleidete Krankenpfleger und ein Notarzt darauf, daß ihnen per Funk die Erlaubnis erteilt wurde, nachzukommen.
Noch war nicht sicher, ob der Alte längst geflüchtet war oder sich zur Wehr setzen würde.
Dann kam die Minute der Wahrheit.
Nicole sah, wie der Notarzt nach dem summenden Walkie-talkie griff, es ans Ohr hielt, ein paar Worte sprach und dann den beiden Pflegern ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Im Eiltempo betraten sie das Stiegenhaus und hasteten die Treppenstufen hoch.
Nicole hielt es nicht länger in Warteposition. Ohne sich um einen übereifrigen jungen Polizisten zu kümmern, der ihr das Betreten des Hauses mit lauter Stimme verbot, eilte sie dem Notarztteam hinterher.
Als sie dann im dritten Stockwerk atemlos ankam und die offene Wohnung des verrückten Alten betrat, hatte sie plötzlich die niederschmetternde Vision, den Geliebten nur noch tot vorfinden zu können.
Mit bleiernen Schritten näherte sie sich der reglos am Boden liegenden Gestalt Zamorras, der von Arzt und Polizisten umringt war.
Der Arzt kauerte niedergebückt vor dem Parapsychologen. Als Nicole näherkam, erhob er sich, starrte die Umstehenden vielsagend an - und schüttelte den Kopf.
Da brach Nicole zusammen.
Tot! hämmerte es in ihren Schläfen. Er ist tatsächlich tot… Mein Gott…
***
Ein Beamter mußte sie stützen, damit sie nicht fiel. Das Blut rauschte in ihren Ohren und vernebelte ihre Sinne. In ihren Augen standen Tränen.
Sie hörte die Stimme des Arztes wie durch meterdicke Schaumstoffwände.
»… Zustand ist mir unerklärlich… sieht aus, als würde er nur schlafen… Puls völlig normal… Die Schußwunde ist fast vollständig vernarbt… Ein Phänomen!… ist mir in meiner ganzen Berufspraxis noch nicht untergekommen…«
Nicoles Verstand streikte. Sie begriff nicht, was ihr Gehör vernahm. Was redete der Doc denn da? Puls normal?
Sie befreite sich aus dem Griff des Polizisten und wankte mit tränenblinden Augen auf Zamorra zu.
Ein paar Gestalten wichen vor ihr zurück; sie nahm es kaum wahr.
Erst als sie sich zu Zamorra niederbeugte, klärte sich ihr Blick.
Zamorra lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, das Hemd halb offen. Die Schußwunde in der Brust war zu sehen, aber sie sah anders aus
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