024 - Die Rattenkönigin
Umarmung befreien wollte, stellten sich ihm sofort die angriffslustigen Ratten in den Weg. Bißwunden an seinen Armen und Beinen zeigten, daß er bereits einige schlechte Erfahrungen mit seinen Bewachern gemacht hatte.
»Ah!« machte Ratten-Jenny jetzt. »Wagst du dich überhaupt noch hierher, Alte? Hast du noch immer nicht begriffen, daß deine Zeit um ist? Willst du wieder einmal versuchen, mich von meinem Platz zu verdrängen? Diesmal werde ich keine Rücksicht mehr nehmen, du Rattenfutter!«
»Du weißt, daß es mein rechtmäßiger Platz ist, den du da einnimmst«, kreischte Arline. »Ich bin zurückgekehrt, um mir zu nehmen, was mir gehört. Ich bin die Königin der Ratten!«
Diese Eröffnung traf Dorian wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er zweifelte nicht daran, daß Arline die Wahrheit sprach; er verstand nur nicht, warum es zwei rivalisierende Anwärter auf den Thron der Rattenkönigin gab.
Während Arline noch sprach, veränderte sie ihre Gestalt. Der Umhang mit den astrologischen Symbolen fiel von ihr ab, und darunter kam ein Körper zum Vorschein, der dem einer Ratte viel mehr glich als dem eines Menschen. Arline hatte ihnen die ganze Zeit über ein Trugbild vorgegaukelt; sie hatte sich ihnen nicht in ihrer wahren Gestalt gezeigt; nun ließ sie die Maske fallen. Sie war nicht mehr die bucklige Alte, die wie eine Knusperhexe aussah, sondern sie wurde zu einem Ebenbild von Ratten-Jenny.
»Ich bin die wirkliche Jenny, und meine geliebten Tiere haben das nicht vergessen«, fuhr Arline fort. »Ich wurde vor hundert Jahren als kleines hilfloses Menschenkind von ihnen aufgezogen. Und ich war es, die von dem Dämon zur Königin über die Ratten von Borvedam gemacht wurde, auf daß ich bis in alle Ewigkeit den Goldenen Drudenfuß bewache. Ich wurde gekrönt. Du dagegen bist nur ein Emporkömmling.«
Ratten-Jenny lachte schrill und spöttisch; das heißt, jenes Geschöpf, das bisher als Ratten-Jenny gegolten hatte, doch nun bezeichnete sich ja Arline als die wahre Rattenkönigin.
»Die lieben Tierchen haben dir die Treue aufgekündigt«, kreischte das rattenähnliche Zwitterwesen, das immer noch Anselm an sich preßte. »Du wurdest schon zu alt, Jenny. Und deshalb haben sich die Ratten vor zwanzig Jahren eine neue Königin geholt. Es war der Wille der Ratten, daß ich dich ablöste, Jenny. Sei froh, daß ich dich damals nicht getötet habe. Aber Vorsicht! Ich kann es immer noch tun.«
»Ja, du hast mich vor zwanzig Jahren von meinem Platz verdrängt«, kreischte Arline. »Ich mußte lange Zeit bei den Menschen in der Emigration leben. Doch geduldig wartete ich auf meinen Tag. Und der ist nun gekommen. Du hast die Ratten mit unzähligen Liebhabern aus den Reihen der Menschen betrogen. Sie haben es dir gutmütig verziehen. Doch dann verliebtest du dich in einen von ihnen – und das werden dir die Ratten nie verzeihen. Ich weiß es, denn sie sind zu meiner Mühle gekommen, um sich über dich zu beklagen. Und ich habe ihnen Abhilfe versprochen. Ich habe ihnen gesagt, daß ich zurückkomme, um wieder ihre Königin zu werden. Du selbst hast in deiner grenzenlosen Begierde deinen Sturz herbeigeführt.«
Das Monstrum auf dem Strohlager stieß Anselm plötzlich von sich, sprang auf alle viere und stellte sich Arline entgegen.
Dorian konnte durch das Stroh den Goldenen Drudenfuß schimmern sehen.
Die beiden monströsen Geschöpfe sprangen sich an, und es entbrannte ein blutrünstiger Kampf. Die beiden Körper waren so eng miteinander verschlungen, daß man sie nicht auseinanderhalten konnte.
Dorian versuchte die Situation auszunutzen und seinen Platz zu verlassen. Doch so gebannt die Ratten von dem Kampf der Königinnen auch zu sein schienen, schon bei der geringsten Bewegung erwachten sie aus ihrer Erstarrung und nahmen Kampfstellung ein.
Dorian wollte sich noch nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen und hielt es für klüger abzuwarten. Er blickte zu Anselm van Riems hinüber, der noch immer bei dem Strohlager stand und sich eng an die Wand preßte. Er starrte ängstlich auf die beiden auf Leben und Tod kämpfenden Ungeheuer.
»Anselm!« rief Dorian ihn an.
Doch er reagierte nicht; auch nicht auf weitere Rufe. Er blickte nur einmal kurz in ihre Richtung.
»Laß mich das machen!« sagte Coco.
Sie starrte intensiv zu Anselm hinüber, so daß er schließlich nicht anders konnte, als den Blick auf sie richten, und dann kam er von ihren Augen nicht mehr los.
»Du wirst alles tun, was ich von dir
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