024 - Irrfahrt der Skelette
Dunkelheit wurde das Wetter etwas schlechter.
Wind kam auf und verstärkte sich rasch. Das war vorauszusehen gewesen. Canopi
konnte sich nur auf die kleine Wetterstation an Bord der Andrea Morena
verlassen. Das Barometer hatte schon am Nachmittag fallende Tendenzen
angezeigt. Nähere Wetternachrichten gab es seit dem Ausfall der Funkstation
nicht mehr.
Canopis Miene war ernst.
Von einigen Reisenden waren Fragen an die Schiffsleitung gerichtet
worden. Es war aufgefallen, daß das Schiff nicht am dritten Tag vor der Bahama-Insel
vor Anker gegangen war. Canopi gab über die Bordsprechanlage schließlich
bekannt, daß er die Andrea Morena während der vergangenen Nacht langsamer habe
fahren müssen, weil im Maschinenraum ein Defekt aufgetreten sei. Man würde nun
mit einer etwa zwölfstündigen Verspätung auf Andros Island ankommen.
Noch vor dem Abendessen wurde der Sturm so stark, daß die Matrosen
überall in den Gängen, in den Speisesälen der einzelnen Klassen und in jedem
Restaurant Seile spannten.
Über die Bordsprechanlage meldete sich der Dritte Offizier.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind in ein
Schlechtwettergebiet geraten. Es ist alles zu Ihrer Sicherheit getan, und es
besteht kein Grund zur Besorgnis. Der Wellengang ist höher geworden, so daß Sie
trotz der eingebauten Stabilisatoren mit einigen unangenehmen
Begleiterscheinungen rechnen müssen. Sie können aber trotz des starken Seegangs
Ihr Essen einnehmen. Wer sich nicht ganz seetüchtig fühlt, sollte sich jedoch
lieber in seine Kabine zurückziehen und sich hinlegen. Wir möchten noch darauf hinweisen,
daß mit sofortiger Wirkung der Aufenthalt auf dem Sonnendeck untersagt ist.«
Man nahm die Durchsage hin, wie sie gedacht war: als ein
notwendiges Übel.
Die Andrea Morena stampfte durch die aufgewühlte See. Drei Meter
hohe Wellen waren keine Besonderheit, aber dem einen oder anderen Reisenden
machte das doch schon zu schaffen. Man sah jetzt des öfteren käsige Gesichter
und Passagiere, die mit plötzlich dicker werdenden Wangen schleunigst auf die
Toiletten verschwanden.
Mrs. Hangsway, die vollbusige Witwe, die heute abend mit einem
noch kostbareren Brillantkollier und einem zitronengelben, paillettenbesetzten
Kleid erschienen war, strahlte und war glücklich. Ihr ging es noch gut. Sie saß
am Tisch und unterhielt sich mit Professor Torrance, dem der augenblickliche
Seegang auch noch nichts auszumachen schien.
Der Sturm wurde stärker, die Wellen höher. Das Schiff schaukelte
und legte sich von einer Seite auf die andere. Die Gläser und die Ascher auf
den Tischen wurden von den an den Tischen hochgestellten und befestigten
Klappen davon abgehalten, herunterzurutschen.
Es gab Reisende, die kräftig ihr Essen in sich hineinschaufelten,
während andere lieber den Speisesaal verließen und stillere Örtchen aufsuchten.
Mrs. Hangsway, die nur zwei Tische von dem Larrys und Angelas
entfernt saß, hatte eine Kaffeetasse vor sich stehen, griff danach und hielt
sie mit spitzen Fingern hoch.
X-RAY-3 sah das.
»Passen Sie auf, Mrs. Hangsway!« rief er über den Tisch hinweg. Er
ignorierte die Gestalt Torrances, der ihm das rechte Profil zuwandte, nur
scheinbar. Auch in der Gesellschaft ließ er in seiner Aufmerksamkeit nicht
nach. X-RAY-3 wirkte ausgeruht und munter.
Am Nachmittag hatte er nochmals eine Tablette genommen. Es war der
einzige Weg, nicht schlappzumachen.
Doch der Körper ließ sich nur eine kurze Zeit betrügen. Über ein
paar Tage hinweg genommen, würden Herz und Kreislauf unangenehm auf den Betrug
reagieren. Es konnte zum Zusammenbruch kommen.
Doch auch Torrance mußte einmal schlafen. Er konnte sich nicht
ständig aus reiner Willenskraft und durch Unmengen von Kaffee und Tee
wachhalten. Es kam darauf an, wer zuerst versagte. Nur ein Augenblick der
Schwäche konnte die Entscheidung bringen. Oder die Katastrophe, nämlich in dem
Augenblick, da Torrance erkennen mußte, daß er der Anspannung körperlich nicht
mehr gewachsen war. Dann konnte seine Erpressung kommen. Durch Geiseln.
Larry befürchtete das Schlimmste. Aber niemand sollte ihm die
Sorgen und die Belastungen ansehen. Er scherzte und gab sich vergnügt, wie von
der ersten Stunde an.
Mrs. Hangsway winkte vornehm ab, während sie die Tasse an die
grellrot geschminkten Lippen führte.
»Sie müssen die Bewegung des Schiffes beachten«, fügte Larry
hinzu. »Wenn Sie die Tasse zum Mund führen wollen, dann müssen Sie sie jetzt,
in diesem Augenblick
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