0255 - Die Gefangene der Teufelsinsel
gegen Abend zu. Das Thermometer fiel um weitere zwei Grad, und es bewegte sich unterhalb des Nullpunktes. Zudem stand das Lager der Zigeuner auf einer freien Fläche, über die der Wind ungehindert fahren konnte, und so drang er auch in die schmalen Gassen zwischen den Wagen ein, wirbelte den Schnee hoch und schaufelte ihn als feine Körner in das Lager hinein.
Trotz der ungünstigen Witterungsverhältnisse wollten die Zigeuner auf die Beerdigungszeremonie nicht verzichten. Um mehr Wärme zu bekommen, hatten sie Feuer angezündet.
Die langen, zuckenden Flammenstreifen leuchteten genau den Weg aus, der den größten Durchgang zwischen den aufgestellten Wagen bildete.
Das Feuer rußte, und so befanden sich zahlreiche dunkle Partikel in der Luft, die an schwarzen Schnee erinnerten.
Man hatte den Toten aufgebahrt. Es war eine schlichte Bahre, auf der er lag.
Die Leiche war gesäubert und angekleidet worden. Tassilo trug ein weißes Hemd, das ihm bis zu den Fußknöcheln reichte. Die Hände waren auf der Brust gefaltet. Als letzten Dienst hatte ihm die alte Azucena die Augen zurückgedrückt, so daß sein Gesicht entspannt wirkte.
Noch befand sich der Tote in ihrem Wagen. Bis auf eine kleine Lampe hatte die Alte das Licht gelöscht. Sie kniete neben der Leiche. Ein schwarzes Tuch — vergleichbar mit einer Mantilla — bedeckte Kopf und Schultern.
Azucena klagte.
Die Laute drangen wimmernd aus ihrem Mund. Die Zigeunerin war von einem plötzlichen Schmerz überwältigt worden, der auch noch Stunden nach dem Tod des jungen Mannes nicht abflaute.
Permanent wiederholte sie die Klagegesänge, so, wie die alten Riten es vorschrieben.
Sie flehte zu den Heiligen und den Dämonen, rief die schwarze Madonna an und fluchte über den Höllenfürsten, der ihrer Meinung nach die Schuld an der Vernichtung dieses blühenden Lebens trug. Tassilo hatte ihr immer zur Seite gestanden. Er war ihr einziger Enkel. Die anderen Mitglieder der Sippe waren umgekommen.
Verfolgt, vernichtet, getötet in den schweren Zeiten, als man auf Zigeuner Jagd machte.
Die Szene wirkte gespenstisch. Das Licht besaß einen rötlich-gelben Schein, der sich wie ein Schleier ausgebreitet hatte und auch das Gesicht der Leiche erfaßte, so daß die Wangen aussahen wie geschminkt.
Gnadenlos hatte der Tod zugeschlagen, und das vergossene Blut war nicht weggewischt worden. Es sollte als ein Mahnmal inmitten des Wohnwagens bleiben.
Die alte Zigeunerin klagte weiter. Es waren Schreie, die aus ihrem Mund drangen und alle Geräusche übertönten. Auch das Klopfen an der Tür.
Erst in einer Pause, in der Azucena den Kopf senkte und Tränen vergoß, hörte sie das Geräusch.
»Bitte, laß mich ein, Azucena!« Sie vernahm die Stimme, und sie zuckte zusammen. Eine Antwort gab sie nicht.
Es war schwer für sie, sich jetzt auf etwas anderes als auf die Trauer zu konzentrieren. Azucena wollte mit ihrem Schmerz allein sein. Dennoch wußte sie, daß sie den alten Sitten und Gebräuchen folgen mußte, und mit schwerer Stimme forderte sie den Besucher auf, den Wohnwagen zu betreten.
Behutsam öffnete der Mann die Tür. Von draußen her fiel der Widerschein der Fackeln in den Wagen und hinterließ einen zuckenden Reigen aus Licht und Schatten.
Der Mann schloß die Tür, blieb stehen und verneigte sich. Sein Gesicht war gerötet. Der Bart zeigte an einigen Stellen graue Fäden. Das Haar auf seinem Kopf war ebenfalls stark angegraut. Es fehlte auf dem vorderen Teil des Schädels völlig, dafür fiel es lang an der hinteren Seite bis in den Nacken.
In sein Gesicht waren bereits die Furchen des Alters hineingegraben.
Die dicken Lippen zuckten, seine dunklen Augen blickten traurig. Es war dem Mann anzusehen, daß er geweint hatte.
»Was führt dich her, Ecco?« fragte die alte Zigeunerin, obwohl sie es genau wußte.
»Er gehört jetzt uns«, erwiderte Ecco. »Du weißt, was die alten Traditionen vorschreiben.«
»Ja, das weiß ich genau.«
»Deshalb möchte ich dich bitten, ihn abholen zu dürfen. Die jungen Leute warten draußen.«
Azucena stand auf. Sie stützte sich dabei schwer ab, um auf die Füße zu kommen. Sie nickte und zog ihr Tuch vor das Gesicht, das jetzt kaum noch zu sehen war.
»Du kannst sie hereinholen«, erklärte die alte Zigeunerin mit brüchiger Stimme.
»Ich danke dir, Azucena!« Ecco zog sich zurück und öffnete die Tür, während die Zigeunerin sich gegenüber in die hinterste Ecke des Wagens zurückzog.
Sie kamen zu viert. Es waren die
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