0255 - Die Gefangene der Teufelsinsel
erinnerte.
Danach begann eine gespenstische Szene. Woher die Zigeuner die Blumen aufgetrieben hatten, wußte niemand. Auf jeden Fall besaßen die Frauen sie, und sie waren es auch, die vortraten und aus den an ihren Armen hängenden Körben die Blüten herausholten und sie auf die Leiche warfen.
Weiße Nelken.
Totenblumen…
Es wirkte unheimlich, wie diese Blüten auf die Leiche fielen. Manche blieben liegen, andere rutschten ab, aber es wurden immer mehr Blüten geworfen, und sie erinnerten an dicke Schneeflocken.
Niemand sprach, keiner weinte. Die Männer standen wie Statuen, nur die Frauen bewegten sich, und aus der Dunkelheit erschienen ihre werfenden Arme. Sie tauchten in das Streulicht der Fackeln, wo sie rot angemalt wurden, während sich die Hände öffneten und die Blumen auf die Leiche warfen.
Schritt für Schritt näherten sich die vier Bahrenträger dem Ort, wo die eigentliche Trauerfeier stattfinden sollte. Die Menschen hatten Platz geschaffen, damit alle an den Gesängen und Gebeten teilnehmen konnten, die sehr lange dauern würden.
Der Platz war vom Schnee befreit worden. Was die Schaufeln nicht schafften, hatten harte Reisigbesen zur Seite gefegt. Der Platz war nun gereinigt und lag als freie Fläche vor der langsam heranziehenden Prozession.
Die Menschen hatten sich dick angezogen. Sie trugen zumeist Fellkleider oder gefütterte Jacken, wobei die hochgestellten Kragen sie gegen den ärgsten Wind schützten.
Man erwartete den Leichenzug. Starr waren die Gesichter der Männer.
Keine Träne rann an ihren Wangen herab, die Frauen jedoch gaben sich ihrem Schmerz hin. Sie schluchzten und beweinten den Toten, der von den Trägern in der Mitte des geschaffenen Platzes abgestellt wurde.
Da stand er nun, und abermals wurden die weißen Nelken auf die Leiche geworfen, während die eng beieinanderstehenden Fackeln die Szene beleuchteten. Auf dem Boden stand die Bahre mit dem Toten. Der kalte Wind fuhr über ihn hinweg, wirbelte die Haare los und löste auch einen Teil der weißen Nelken von seinem Leichenhemd.
Azucena, die Führerin der Sippe, kniete nieder. Ein jeder wußte, was nun folgte, denn Azucena nahm Abschied von einem Menschen, den alle geliebt hatten.
Sie drückte ihre kalten Lippen auf die noch kälteren Hände des Toten, und ein jeder sah, daß sie schluchzte, obwohl kein Laut über ihre Lippen drang.
Nur der Körper bebte. Es war ein lautloses Schluchzen, unheimlich anzusehen.
Der Tote und die alte Frau zeichneten sich als Schatten auf dem Boden ab. Ein Schatten, der zuckte, denn durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit kam es zu diesem Spiel.
Das Schweigen lastete über dem Platz. Auch die umherstehenden Frauen wagten nicht, ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen. Sie warteten, bis sich Azucena hochstemmte.
Einfach fiel ihr das nicht. Sie tat sich schwer, beugte den Rücken durch, doch niemand half ihr. Sie allein hatte dies alles zu verantworten, so verlangte es die Tradition.
Schließlich stand Azucena auf. Sie blieb hochaufgerichtet stehen, schien dabei sogar zu wachsen und drehte den Kopf, um jeden einzelnen anzuschauen, obwohl sie die Gesichter hinter den zuckenden Flammen nicht erkennen konnte.
Die Menschen erwarteten von ihr eine Totenrede, und sie scheute sich nicht, die Worte zu sprechen.
Ihre Stimme unterbrach das drückende Schweigen. »Liebe Schwestern, liebe Brüder! Ich weiß, daß der Tod endgültig ist. Für uns, für jeden Menschen auf der Welt gibt es kein Entrinnen, denn im Buch des Schicksals hat der Sensenmann alles vorherbestimmt. Doch es gibt Augenblicke, wo man von einer Schuld sprechen muß. Und dieser Augenblick ist nun eingetreten. Ich fühle mich schuldig am Tod dieses Menschen vor meinen Füßen, denn ich war es, der auf der Wanderschaft den Vorschlag gemacht hat, die Insel anzulaufen. Sedonis ist eine höllische Insel. Sie verwaltet ein Erbe, das uns die Vergangenheit hinterlassen hat. Ich war so vermessen, das Erbe zu wollen, denn ich wußte von der alten Überlieferung, daß diese Insel unmittelbar mit Atlantis zusammenhängt. Es gibt dort Spuren, die auf den geheimnisvollen Kontinent hinweisen. Ich war besessen davon, das Rätsel Atlantis zu lösen. Wir haben Ambiastro gefunden, den Vampir-Drilling, von dem die Legenden berichten. Wir haben Myxin gesehen, der damals die schwarzen Vampire angeführt hat, und vielleicht ist er unsere Hoffnung. Die Insel muß zerstört werden, von ihr geht nicht nur das Böse aus, sie zieht es auch an. Oder wäre
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