026 - Bote des Grauens
fühlte. Aber vielleicht war sie schon zu lange unglücklich gewesen, eine zusätzliche Beeinträchtigung ihres Gefühlszustands schien unwesentlich zu sein. Sie sang, und wusste, dass es besser war, nicht zu forschen, warum sie es tat.
Der Klang ihrer klaren Stimme war ein ungewohnter Laut in diesem Haus. Es war alt, und die Jahrzehnte, die es auf dem Buckel trug, hatten die Fassade unansehnlich gemacht. Von außen wirkte es wie eine unnahbare alte Dame, deren Spitzenkleid verschmutzt war und die diesen Makel durch Hochmut verdecken wollte. Innen war es mürrisch vom schleichenden Verfall, denn seine Einrichtung war noch dieselbe wie in den neunziger Jahren. Zuerst hatte man wegen ihrer ausgesuchten Qualität nichts daran geändert, und später, weil Mrs. Grant es nicht ertragen hätte. Sie war in dieses Haus gekommen und hatte darin geheiratet. Laura war darin geboren, und Mrs. Grant darin gestorben. Und irgendwie haftete den vorderen Räumen immer noch der unangenehme Geruch von verwelkten Maiglöckchen an, obwohl seit Jahren keine mehr gekauft worden waren.
Das Haus war eine Gruft der Erinnerungen. Wirklich ein seltsames Heim für ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen.
Laura konnte sich nicht entsinnen, jemals ein Lachen in diesen Räumen gehört zu haben. Ihr Vater, der sein Ansehen allein auf seine steife Würde baute, duldete kein Lachen. Vielleicht, weil Lachen manchmal Spott bedeutete? Während ihrer ganzen Kindheit war ihr Vater, der sehr spät geheiratet hatte, finster von Zimmer zu Zimmer geschlichen, ohne dem Unwillen und der Kritik in seinen scharfen, kalten Augen je laut Luft zu schaffen. Als Kind hatte sie in ständiger Angst gelebt, etwas umzuwerfen, zu beschädigen oder auch nur ein ihrem Vater unerwünschtes Geräusch zu verursachen. Immer hatte sie sich bemüht, ihm alles recht zu machen, aber nie hatte er es ihr auch nur mit einem flüchtigen Lächeln gedankt.
Ihre Mutter war unsäglich stolz auf Mr. Grant. Er war in all seiner Düsterkeit eine solche Säule von Stabilität gewesen, dass sich ihre Unterhaltung immer nur um ihn drehte und sie seine ihr zur Offenbarung gewordenen Worte zitierte. Als er beerdigt war, zog sie sich auf ihr Zimmer zurück und herrschte und bestimmte von dort aus. ohne es seither je zu verlassen. Mr. Grant war tot. Aber Mrs. Grant hielt seine gewichtigen Gedankenarm Leben.
Das niedliche irische Hausmädchen, das unbeeindruckt das kostbare verschnörkelte Kaminsims abstaubte, beobachtete Laura aufmerksam, ohne es sich anmerken zu lassen. Lauras Schritt wirkte heute beschwingt wie nie zuvor. Die kleine Irin war ein wenig besorgt. Sie mochte Laura und wusste, dass ihre gute Laune in diesem Haus nicht anhalten würde, und nicht anhalten durfte.
Laura war wie ausgewechselt. Sie arrangierte Blumen und stellte Listen auf, nur um festzustellen, dass sie vergessen hatte, Wasser in die Vasen zu geben, und Mehl bei Liter und Öl bei Pfund bestellt hatte.
Die Vorahnung des Hausmädchens wurde nur zu bald wahr.
Eine schrille Stimme kreischte mit unangenehmer Durchdringlichkeit von oben durchs Haus.
„Laura!“
Laura hielt in ihrer Beschäftigung inne, und das Lied erstarb auf ihren Lippen.
„Laura!“
Sie warf sich im Spiegel einen schuldbewussten Blick zu und eilte zum Fußende der Treppe.
„Laura! Wo bist du?“
„Hier. Mutter.“
„Muss ich denn durch das ganze Haus brüllen? Was würde dein Vater denken, wenn er noch lebte! Komm zu mir!“
Langsam und unwillig stieg Laura die Stiegen hoch. Sie hatte nun ein schlechtes Gewissen, weil sie gesungen und sich so beschwingt gefühlt hatte. Sicher regte sich ihre Mutter deshalb auf. Dabei warnte der Arzt immer, dass jegliche Aufregung schädlich für ihr Herz sei.
Mit hängendem Kopf betrat sie das Zimmer und begab sich an die Seite ihrer Mutter.
Die alte Frau saß hoch aufgerichtet im Bett, von Kissen gestützt.
Wütend warf sie das Buch, in dem sie gelesen hatte, auf den Boden, dass es aufgeschlagen auf dem Teppich liegen blieb. Dann schob sie verärgert die Pralinenschachtel zur Seite, und als ob die verschmierte Schokolade die Deutlichkeit ihrer Stimme beeinträchtigen könnte, wischte sie sich die Lippen ab.
„Was ist denn, um Gottes willen, in dich gefahren?“ fragte sie streng.
„Es ist – es ist. als käme der Frühling“, erklärte Laura stockend.
„Kein Grund, wie ein verliebter Hahn zu krähen. Hm. Außerdem hat der Winter noch nicht einmal richtig begonnen! Und ist der Sommer nicht schlimm
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