0264 - Nachts, wenn der Wahnsinn kommt
Franca lag allein in ihrem Zimmer. Das gehörte zu ihren Privilegien, denn ihre Eltern hatten Geld und konnten das Einzelzimmer bezahlen, während andere Schülerinnen sich zu dritt ein Zimmer teilen mußten.
Sie war hellwach.
Das Fenster befand sich rechts von ihr. Die Vorhänge ließ sie immer offen. Deshalb konnte sie auch hinausschauen. Sie sah den dunklen Himmel, deren Farbe sie an tiefblaue Tinte erinnerte, und sie entdeckte hin und wieder ein gelbes Blitzen, wenn die Wolken weitergezogen waren und die Sterne nicht mehr verdeckten.
Franca atmete schwer und unregelmäßig.
Die dünne Decke bewegte sich ebenso wie das helle Nachthemd, das sie über ihren nackten Körper gestreift hatte. Franca bekam Herzschmerzen, ein Unding für ihre achtzehn Jahre. Zudem war sie austrainiert. Sie übte jeden Tag mehrere Stunden, um einmal perfekt tanzen zu können.
Weshalb die Angst? Womit hing sie zusammen? Vielleicht mit den alten Schauergeschichten, die man sich über diese Gegend erzählte, die verflucht sein sollte. Da war vor Jahren irgend etwas mit einem See im Stein passiert, ein Friedhof sollte auch eine Rolle gespielt haben, und die Schule war für mehrere Monate geschlossen gewesen. Gefunden hatte man nichts, und die ganze Sache war als Hirngespinst abgetan worden.
Franca war nicht abergläubisch, aber eine andere Erklärung für ihre Angst fand sie nicht.
Plötzlich zuckte sie zusammen.
Sie hatte Schritte gehört. Nicht im Zimmer, auch nicht vor dem Haus oder unten im Garten, sondern im Gang, an dem ihr Zimmer lag.
Dort ging jemand!
Tapp…tapp, hörte sie. Eine Monotonie, die sie regelrecht erschreckte, gerade jetzt, wo es im Haus still war. Stumm blieb sie liegen, versuchte auch, den Atem unter Kontrolle zu bekommen, und lauschte nur noch.
Die Schritte wurden lauter. Sie näherten sich ihrer Tür. Würden sie stoppen? Oder..
Franca dachte nicht mehr weiter, denn die Schritte verklangen tatsächlich.
Genau vor dem Zimmer!
Und dann bewegte sich die Klinke. Im Halbdunkel sah das Mädchen es.
Die Klinke wurde nach unten gedrückt. Sie mußte bald den Punkt erreicht haben, wo die Tür aufgedrückt werden konnte, und einen Lidschlag später schwang sie tatsächlich nach innen.
Das Mädchen bewegte sich nicht. Selbst sein Zittern hatte aufgehört, und Franca hörte nicht einmal ihren Herzschlag. Starr schaute sie auf die sich immer weiter öffnende Tür.
Der Spalt wurde größer.
Jetzt erschien ein Gesicht. Blaß sah es in der Dunkelheit aus, wie das eines Toten. Der Teil einer Hand war ebenfalls zu erkennen. Die Finger krallten sich um die Türkante. Auf Franca wirkten sie wie die Krallen eines Raubvogels.
»Schläfst du schon?«
Es war die flüsternde, fast zischelnde Stimme der Schulleiterin, die Franca hörte. Natürlich hatte sie die Frau längst erkannt. Trotzdem war sie nicht beruhigt. Sie fürchtete die Frau namens Elena Propow, und sie war nicht die einzige.
Alle Mädchen hatten vor ihr Angst, wobei es nicht einmal die Strenge war, die sie zu diesen Reaktionen veranlaßte, sondern der Hauch, der die Frau umgab.
Elena Propow verbreitete keine Wärme. Sie schien überhaupt kein Gefühl zu besitzen. Wer sich in ihrer Nähe aufhielt, konnte meinen, neben einem Eisschrank zu stehen.
Dabei war sie eine hervorragende Tänzerin. In Rußland hatte sie gelebt, war dann auf abenteuerliche Weise nach Italien gekommen, in Rom untergetaucht und hatte schließlich auf Sizilien eine Tanzschule eröffnet.
Eine Bilderbuch-Karriere zeichnete sich ab. Wer von den gutbürgerlichen Familien auf der Insel etwas auf sich hielt, schickte seine Töchter in das Tanz-Internat der Propow, und es waren zahlreiche Familien, die das Geld hatten, um die teure Ausbildung zu finanzieren. Manche Leute glaubten, daß die Mafia die wahre Besitzerin der Schule war, denn die Mädchen konnten beruhigt ihren Tätigkeiten nachgehen. Niemand traute sich in ihre Nähe. Nicht während der Tanzstunden, weder bei den schulischen Übungen noch in der Freizeit beim Spielen am Strand.
Sie blieben unter sich.
Einen Tag in der Woche hatten sie frei. Es war der Sonntag. Und da wurden sie zumeist von den Eltern besucht, die mit ihnen essen fuhren.
»Ich schlafe noch nicht, Signora«, antwortete Franca Mundi leise. »Es ist mir zu warm…«
»Du solltest jetzt schlafen, Kind. Es ist besser für dich. Die anderen sind nicht mehr wach. Ich habe in alle Zimmer geschaut. Die Mädchen schlafen alle fest.«
Wahrscheinlich durch Pillen oder
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