0266 - Der Grachten-Teufel
um nicht gegen die Decke zu stoßen. Auch die anderen Fahrgäste waren aufmerksam geworden.
Ihre verwunderten und erstaunten Blicke folgten dem jungen Mann, der sich in Richtung des Ausstiegs zubewegte.
Dieter Hoven schaute Carla an. Sie hatte einen roten Kopf bekommen.
Ihr war die Szene peinlich. Verständlich.
Sie krauste die Stirn, und Dieter Hoven glaubte, einen hilflosen Ausdruck in ihren Augen zu entdecken. Aber konnte er ihr helfen?
Kaum. Er befand sich in einem fremden Land, dessen Sprache er nicht redete. Außerdem…
Er drehte sich um. Dieter wollte sehen, was der andere vorhatte.
Vielleicht brauchte er auch nur einen besseren Platz, um Aufnahmen mit interessanteren Motiven zu knipsen. Schließlich war er nicht der einzige, der sich hin und wieder von seinem Sitz erhob. Fast alle, die fotografierten, standen hin und wieder mal.
Es war nur seltsam, daß er sich dem Ausgang zubewegte.
Zwei kleine Stufen führten bis dicht an die Tür. Sie war auch während der Fahrt nicht verschlossen. Allerdings durften keine Kinder in ihrer Nähe sein.
Die Mehrzahl der Fahrgäste interessierte sich nicht mehr für den jungen Mann. Carla war es unangenehm. Sie hatte sich nach außen gebeugt, um besser in den Gang hineinschauen zu können.
Da Carla sich für das Verhalten ihres Freundes so sehr interessierte, wurde auch Dieter Hoven aufmerksam. Er glaubte einfach nicht mehr, daß der junge Mann nur fotografieren wollte. Nein, der hatte etwas anderes im Sinn.
Die Hosteß redete und erklärte wieder. Dieter hörte die Worte nicht.
Dafür fing er einen hilflosen Blick des Mädchens Carla auf und hob selbst die Schultern.
Was sollte er tun?
»Er will weg«, sagte Carla leise.
Diese drei Worte waren für Dieter Hoven das Alarmsignal, und er sah seine Annahme in den nächsten Sekunden bestätigt, denn Piet tat etwas Ungeheuerliches.
Er wollte die Tür öffnen.
Normalerweise konnte dies nur einem Verrückten einfallen. Niemand dachte daran, während einer Grachtenfahrt auszusteigen und ein Bad zu nehmen. Außerdem waren die Kanäle zu schmutzig, aber dieser Piet wollte es wissen, denn seine Hand lag bereits auf dem Griff.
»Piet!« Carla rief den Namen ihres Begleiters, doch der junge Mann hörte nicht.
Die in der zweiten Hälfte des Bootes sitzenden Fahrgäste hatten die Köpfe gedreht. Sie waren aufmerksam geworden und wollten sehen, was los war.
Erregte Stimmen klangen auf. Auch die Hosteß griff nun ein. Sie löste sich von ihrem Platz und drängte sich durch den Mittelgang. So lange wollte Carla nicht warten. Wenn sie es mit Worten nicht schaffte, dann eben mit Taten. Sie konnte nicht zulassen, daß ihr Freund irgendwelche Dummheiten machte.
Auch Dieter Hoven dachte ähnlich. Ihn jedoch interessierte der Mann nicht so sehr. Carla war wichtiger. Wenn er half, tat er ihr vielleicht einen Gefallen.
Da sich Dieter Hoven um die Länge einer Sekunde eher entschlossen hatte, ging er auch vor Carla. Zudem war er schneller am Ziel als das holländische Mädchen, aber zurückhalten konnte er Piet auch nicht mehr. Der stand schon auf dem schmalen Rand nahe der Tür, hatte sich vorgebeugt und löste soeben seine Hand vom Rand, als Dieter Hoven zugreifen wollte.
Dann sprang er.
Hinter sich vernahm der junge Deutsche den entsetzt klingenden Schrei Carlas. Er sah Piets Körper in der Luft. Dies dauerte nur sekundenlang, dann klatschte der junge Mann ins Wasser.
Er ging sofort unter.
Die schmutzigen Fluten der Gracht glichen gierigen Armen, die ihn in die Tiefe zogen.
Eine Alarmklingel schrillte auf. Das Boot stoppte. Die Menschen hatte es nicht mehr auf den Sitzen gehalten. Jemand rief mit lauter Stimme:
»Mann über Bord!«
Es herrschte das Chaos.
Dieter spürte auf seiner Schulter schmale Hände. Als er einen Blick zurückwarf, sah er Carla dicht hinter sich stehen. Sie schaute an ihm vorbei, die großen blauen Augen weit aufgerissen, das Gesicht mit einer kalkig wirkenden Blässe überzogen.
Auch sie konnte nicht begreifen, daß ihr Freund so reagiert hatte. Das war ihr deutlich anzusehen.
Dieter Hoven wollte es riskieren. Er hatte Piet bisher nicht auftauchen sehen. Vielleicht konnte der andere auch nicht schwimmen. Dann mußte man ihn holen.
»Ich werde…« Das nächste Wort blieb ihm im Hals stecken, denn er sah Piet.
Carla sah ihn ebenfalls, alle anderen Fahrgäste auch. Und jeder konnte auch die gewaltige schuppige Krallenhand erkennen, die den jungen Mann umklammert hielt…
***
Es war
Weitere Kostenlose Bücher