0286 - Briefe aus der Hölle
Händen.
Henry Torry schritt über das Bett herum. Er ging an der Seite entlang, denn dort schlief Shelly.
Unwillkürlich ging er auf Zehenspitzen. Der alte Sisalteppich dämpfte seine Schritte, und als er mit der Fußspitze gegen die abgestellten Pantoffeln stieß und diese über den Teppich rutschten, zuckte er zusammen.
In Kopfhöhe blieb er stehen. Dabei senkte er seinen Blick, streckte den linken Arm aus und ließ seine Hand auf der Schulter seiner Frau liegen.
Für einen Moment blieb er in der Haltung. Er spürte die Wärme der Haut durch den groben Stoff und schaute noch einmal in das völlig entspannte Gesicht.
Lächelte sie etwa?
Kaum, dazu hatte sie auch keinen Grund.
Henry Torry atmete schnaufend. Er zog die Schlafende zu sich herüber, und als sie schräg lag, da richtete er sie auf, indem er eine Hand hinter ihren Rücken legte und sie abstützte.
In dieser Haltung blieb sie.
In der Linken hielt er die Schlinge. Der Kopf war zur anderen Seite gekippt, das störte ihn nicht. Die Henkersschlinge war groß genug, um sie auch in einer Schräglage um den Hals legen zu können. Henry mußte sie am Knoten zusammenziehen.
Er machte es so professionell, als hätte er nichts anderes in seinem Leben getan.
Noch ein Ruck.
Dann saß sie fest.
Mit beiden Händen packte Henry Torry den Strick. Sein Mund verzog sich, in seine Augen trat ein fanatisches Leuchten, und er dachte daran, daß der Teufel mit ihm zufrieden sein konnte…
***
Gayle Torry spürte noch jetzt die Schläge in ihrem Rücken, die die Fäuste ihres Mannes wieder einmal auf ihrem Körper hinterlassen hatten. Sie brannten nicht nur auf der Haut, sondern auch in der Seele, und das war besonders schlimm. Fünf Jahre Ehe lagen hinter ihr. Vier davon waren normal gewesen, eines aber war die Hölle gewesen.
Ausgerechnet das letzte.
Gayle Torry hatte ihren Namen behalten, als sie heiratete. Irgend wie war es ihr wie ein Wink des Schicksals vorgekommen, und nun saß sie in ihrem kleinen Fiat und fuhr durch die Nacht.
Diesmal war er zu weit gegangen. Er hatte sie gedemütigt, geschlagen und seine Wut an ihr ausgelassen. Daß er betrunken war, ließ sie als Entschuldigung nicht gelten, nicht mehr…
Ihr blieb die Flucht.
Zum Glück hatten sie keine Kinder, aber Gayle war es endgültig leid, mit einem Alkoholiker noch länger zusammen zu leben. Sie zerstörte sonst ihr Leben, und das mit 26.
Nein, ohne sie.
Dabei wunderte sie sich, wie ruhig sie noch den Wagen durch das nächtliche London lenken konnte. Erst hatte sie sich ja ein billiges Hotelzimmer nehmen wollen, bis sie an die Worte ihres Vaters dachte, die er einmal gesagt hatte.
»Solltest du Schwierigkeiten haben, kannst du immer nach Hause kommen, Mädchen.«
Das wollte sie.
Bisher hatte sie sich bei den Eltern nie beklagt, doch in dieser Nacht wollte sie ihnen reinen Wein einschenken. Sie sollten endlich erfahren, wie es um sie stand.
Gayle Torry mußte sich konzentrieren. Es fiel ihr sehr schwer, denn ihre Gedanken beschäftigten sich mit anderen Dingen. Immer wieder sah sie das Gesicht ihres Mannes vor sich, den starren Blick seiner Augen, den offenen Mund, und sie roch auch jetzt noch den nach Alkohol stinkenden warmen Atem.
Damit war nun Schluß. An einer Ampel brachte sie ihren kleinen Wagen mit radierenden Reifen zum Stehen. Dieses Auto war ihr ein und alles. Sie hing daran, denn der Fiat gab ihr ein gewisses Maß an Selbständigkeit. Sie hatte sich in das Fahrzeug setzen und wegfahren können, während ihr Mann zu Hause bleiben mußte und dort sicherlich tobte.
Bevor die Ampel umschlug, warf sie noch einen Blick in den Innenspiegel. Dort sah sie ihr Gesicht und entdeckte auch die tiefen Falten in der Haut.
Verflixt, sie sah um zehn Jahre älter aus. Das letzte Jahr hatte an ihren Nerven gezerrt und war ihr wie ein Reißwolf vorgekommen, der sie verschlingen wollte.
Aber sie hatte widerstanden und sich keine Angst machen lassen. Tief atmete sie ein. Erst als jemand hinter ihr hupte, bemerkte sie, daß die Ampel bereits umgesprungen war. Sie hob kurz die Hand und gab Gas.
London bei Nacht. In Soho war jetzt der Teufel los, doch nicht in der Gegend von Paddington, wo ihre Eltern lebten. Sie besaßen eine Wohnung inmitten eines Wohnblocks, den der Besitzer, ein Scheich aus dem Orient, vor einem halben Jahr hatte saharagelb anstreichen lassen.
Weit brauchte sie nicht mehr zu fahren. Sie ließ den Bahnhof Paddington rechts liegen und hatte zwei Minuten später die kleine
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