0286 - Briefe aus der Hölle
eines alten gebrochenen Mannes, aber in seinem Blick las ich etwas anderes.
»Wir sehen uns wieder, Polizist«, sagte er, drehte sich um und nickte seinem Bewacher zu. Die beiden verschwanden wenig später durch eine zweite Tür.
Ich blieb noch in der Zelle stehen, denn ich mußte warten, bis der Bewacher zurückkehrte, damit er mir die in den Gang führende Tür aufschließen konnte.
»Ein seltsamer Vogel, Sir«, sagte der baumlange Polizist, als er zurückkehrte.
»Da sagen Sie was. Haben Sie so einen Gefangenen schon mal hier erlebt?«
»Nein, Sir. Der ist so ruhig. Aber Sir, wenn ich mir die folgende Bemerkung gestatten darf, stille Wasser gründen tief. Vielleicht kocht in ihm ein höllischer Vulkan. Wer blickt schon in die Seele eines Menschen hinein. Sir?«
»Da haben Sie recht, Mister.«
Der Mann schloß mir die Tür auf. Ich fand mich in dem unterirdischen Zellentrakt gut zurecht, aber ich wollte noch nicht in meine Wohnung fahren, denn jetzt war ich hellwach. Außerdem wartete jemand auf mich, mit dem ich unbedingt reden wollte.
Es war Torrys Tochter Gayle.
Ich fand sie im kleinen Besucherraum. Sie saß dort allein und wirkte ziemlich verloren. Ihren graubraunen Mantel hatte sie nicht ausgezogen und ihn eng um ihren Körper gedrückt. Vor ihr dampfte eine Tasse Kaffee.
Mit beiden Händen hielt sie die Tasse umklammert. Bei meinem Eintritt hob sie den Kopf. Sie war sehr blaß, nur die Augen zeigten einen roten Rand vom langen Weinen.
Diese Frau hatte Schweres hinter sich, denn sie war es gewesen, die uns alarmiert hatte. Sie hatte ihren Vater entdeckt, und auch die tote Mutter.
Ein Arzt mußte ihr eine Beruhigungsspritze geben, damit sie wieder zu sich fand.
Allerdings hatte sie sich nicht davon abhalten lassen, mitzukommen, und jetzt wartete sie auf mich.
Ich lächelte ihr zu und fragte: »Kann man den Kaffee trinken?«
»Weiß nicht.«
»Ich hole mir auch eine Tasse.«
Die Kollegen vom Nachtdienst hatten ihn gekocht. Natürlich mußte ich mir Bemerkungen gefallen lassen, die auf den Kaffee meiner Sekretärin anspielten, denn ihn hielt ich für den besten der Welt, was ich oft genug anderen mitteilte.
Jetzt kam die Retourkutsche.
»Wenn er besser sein sollte, sage ich es euch«, versprach ich.
»Und wenn nicht?«
»Sage ich es weiter.«
Dann mußte ich so schnell wie möglich verschwinden, sonst hätten mich die Kollegen noch gelyncht.
Zur Hälfte hatte Gayle Torry ihre Tasse geleert. Ich nahm Platz, und bei ihr wurde ich eine Zigarette los. Auch ich zündete mir ein Stäbchen an, nahm den ersten Schluck und fand den Kaffee ganz passabel.
Ich wußte nicht, wie alt mein Gegenüber war, aber die 30 hatte sie bestimmt noch nicht erreicht, auch wenn sie in diesen Augenblicken wesentlich älter wirkte.
Ihr Gesicht zeigte scharfe Falten, und die waren sicherlich nicht erst in den letzten beiden Stunden entstanden, sondern Spuren eines nicht eben guten Lebens.
»Ich weiß, daß Sie Schreckliches hinter sich haben«, erklärte ich, »aber ich muß Ihnen leider einige Fragen stellen, was Sie sicherlich verstehen werden.«
»Natürlich, Mr. Sinclair.« Meinen Namen hatte ich ihr schon vorher preisgegeben.
»Dann möchte ich gern von Ihnen wissen, wie Sie die schreckliche Geschichte erlebt haben. Versuchen Sie sich an alles zu erinnern. Gehen Sie jeden Schritt einzeln durch.«
Die Frau preßte für einen Moment die Lippen zusammen. Zeige- und Mittelfinger drückten die Zigarette so stark zusammen, daß das Stäbchen fast platt wurde.
Ich ließ sie in Ruhe, denn sie suchte nach den passenden Worten. Als sie diese endlich gefunden hatte, begann ihr Redefluß. Sie konnte sich endlich einiges vom Herzen reden, und sie begann nicht mit der Entdeckung des Verbrechens, sondern mit ihrer Ehe, die kaputt war.
Ich war ein geduldiger Zuhörer und führte sie nur durch Zwischenbemerkungen zum eigentlichen Thema hin.
Diesmal erfuhr ich Neuigkeiten. Gayle Torry hatte vor der Entdeckung des Verbrechens noch einen Blick in das Arbeitszimmer ihres Vaters geworfen und dort etwas entdeckt, das ihr aufgefallen war.
Einen langen Brief.
»Ich habe ihn sogar bei mir«, erklärte sie und holte ihn aus der Tasche.
Knisternd faltete sie das Papier auseinander, bevor sie mir den Brief reichte.
Das waren fünf Blätter, und ich war darüber ziemlich überrascht. »Den hat Ihr Vater geschrieben?« wunderte ich mich.
»Ja, das war er und auch nicht.«
»Wieso?«
Sie deutete auf das Papier. »Schauen Sie sich
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