0295 - Tal der vergessenen Toten
zur Tür. Sie wunderte sich über ihren Mut, blieb vor der Tür kurz stehen, atmete tief durch und öffnete sie vorsichtig.
Im Korridor brannte Licht. Es war so hell, daß sie alles erkennen konnte.
Auch einen leeren Gang.
Es gab keinen Einbrecher, sie sah nicht einmal Spuren, und Lisa sagte sich, daß sie sich vielleicht getäuscht hatte. Ihre Nerven waren angespannt, überreizt. Sicherlich hatten sie ihr einen Streich gespielt. Es war niemand außer ihr im Haus.
Sie traute sich sogar, in die Diele hineinzugehen, schaute nach rechts, nach links…
Die Küchentür!
Sie war nicht geschlossen, und sie bewegte sich noch leicht. Ein winziges Zittern, aber deutlich zu sehen.
Lauerte der Mann in der Küche, oder bewegte sich die Tür aus einem anderen Grund?
Lisa dachte daran, daß sie die Haustür nicht geschlossen hatte. Es konnte Durchzug entstehen, demnach hatte das Zittern der Tür eine natürliche Erklärung.
Lisa atmete auf. Sie gab sich selbst mit dieser Ausrede zufrieden. Dennoch wollte sie genauer nachschauen, schlich auf leisen Sohlen zur Tür und öffnete sie.
Die Küche war ziemlich groß. Darauf hatte man früher Wert gelegt. Licht brannte nicht.
Lisa schaltete es ein. Der Raum wurde hell, und die Frau sah das Grauenvolle mit einer nahezu brutalen Deutlichkeit.
Der Unheimliche stand neben dem Tisch. Mit seiner linken Hand hatte er sich auf die Platte gestützt. Dabei hielten seine Finger noch den Griff eines Küchenmessers fest.
Den rechten Arm hielt er ausgestreckt, und er deutete in Lisas Richtung, wobei ihr diese Bewegung wie eine Anklage vorkam, denn der Arm hatte keine Hand mehr.
Die hatte in dem Brikettstück gesteckt!
***
Lisa Wiesner war unfähig, sich zu rühren. Zu tief saß der Schock dieser plötzlichen Begegnung.
Weit hatte sie die Augen aufgerissen, und ihre Blicke glitten über die unheimliche Gestalt, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.
Es war ein Wesen des Schreckens.
Konnte das überhaupt ein Mensch sein, der da vor ihr stand? Sie wollte es kaum glauben, obwohl der Eindringling menschliche Gestalt aufwies. Er war kahlköpfig. Sein Schädel glänzte ebenso bleich wie das Gesicht. Die Augen wirkten wie zwei Steine, denn in ihnen steckte kein Lebenszeichen mehr. Weißlich schimmerte die Iris, und das Wesen trug ein zerfetztes Hemd von blaßgelber Farbe. Dreck klebte an den Stoffresten und auch an der Hose.
Der Eindringling sagte nichts. Er streckte nur seinen handlosen Arm aus, ein Zeichen für Lisa, daß er etwas wollte.
Die Hand!
Genau! Er mußte die Hand suchen, die in dem Brikettstück gelegen hatte.
Aber wo hatte er sie verloren?
Sprechen konnte er nicht. Lisa schaute zu, wie er seinen Mund öffnete. Ein tiefes Maul starrte ihr entgegen, aus dem ein fauliger Geruch wehte.
Dieser Mann sah aus wie ein Toter.
Wie ein Toter! Als Lisa daran dachte, schüttelte sie sich. Das war nicht zu fassen, ein Toter, der lebte. Nein, so etwas konnte es nicht geben. Im Hals spürte sie ein Kratzen und erschrak zutiefst, als durch die Gestalt des Unheimlichen ein Ruck ging.
Jetzt kam er vor.
Lisa hörte es nun deutlich, daß sie sich vorhin nicht getäuscht hatte. Diese schlurfenden Schritte vernahm sie nun aus der Nähe. Das Wesen ging nicht, es schleifte über den Boden, und es bewegte auch seinen linken Arm.
Diese Hand hielt das Messer!
Lisa kannte das Küchenmesser. Sie hatte es oft benutzt. Bester Stahl aus Solingen, scharf und spitz.
Ein Stahl, der auch Menschen töten konnte.
Wie Lisa, zum Beispiel!
Sie zitterte. Es begann bei ihren Lippen, setzte sich auf den Wangen fort, und sogar die Zähne klapperten aufeinander. Die Angst war riesengroß, und noch immer war sie nicht in der Lage, einen Schrei auszustoßen, der ihren Mann gewarnt hätte.
Der Untote kam näher.
Er brauchte nur noch zwei Schritte zu gehen, um sein Opfer zu erreichen.
Langsam hob er die linke Hand. Jetzt deutete die Messerspitze schräg auf den Körper der Frau.
»Bitte!« flüsterte Lisa. »Bitte, ich… ich habe Ihnen doch nichts getan. Ich…«
Der Zombie ging noch einen Schritt.
Lisa schrie.
Da stieß er zu!
***
Karl Wiesner hatte den Garten durchwandert und dabei jede Ecke abgesucht.
Von einem Dieb oder Eindringling fand er nicht die geringste Spur. Aber Spuren.
An einigen Stellen war das Gras niedergetreten, und Karl wußte genau, daß er es nicht gewesen war.
Also hatte sich seine Frau nicht getäuscht. Es war jemand im Garten gewesen.
Nur - wer konnte das
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