0295 - Tal der vergessenen Toten
hatte. Wahrscheinlich nicht. Am Samstagnachmittag mußte er noch arbeiten. Das gefiel ihm überhaupt nicht, und er hätte am liebsten alles fortgeworfen.
»Was ist? Mach weiter!«
»Keine Lust mehr!« murmelte Gerd.
»Wegen der zwanzig Mark, wie?«
»Auch.«
»Mensch, ich hätte nicht gedacht, daß du dich so anstellst. Ich bin dein Vater, habe für dich gesorgt, und deine Mutter ebenfalls. Aber Hilfsbereitschaft kann man von euch ja nicht verlangen.«
»Das ist auch Mist. Warum haben wir uns keine Ölheizung anlegen lassen?«
»Du vergißt, daß wir auf der Braunkohle sitzen. Damit heizen wir auch wesentlich billiger. Mach weiter!«
Plötzlich drehte Gerd durch. Er nahm ein Kohlestück, schaute darauf, seine Mundwinkel verzogen sich, und im nächsten Augenblick schleuderte er das Stück wütend gegen die Wand.
Mit einem satten Geräusch brach das Stück auseinander.
Gerd war sicherheitshalber zurückgetreten. Er wollte sich keinen Schwinger einfangen, doch sein Vater dachte überhaupt nicht daran, ihn für diese Dummheit zu strafen. Wiesner sah das Kohlestück, das Gerd gegen die Wand geschleudert hatte. Zerbrochen in zwei Hälften lag es am Boden.
Zwei Hälften, an sich nichts Besonderes, wenn da nicht etwas gewesen wäre, das ihn nicht nur überrascht, sondern regelrecht entsetzt hätte.
Aus der größeren Hälfte ragten die bleichen Finger einer Hand!
***
Karl Wiesner hielt die Luft an. Er hatte sich nicht voll aufgerichtet und blieb in einer gebückten Haltung stehen, wobei er auf das Kohlestück starrte und den Kopf schüttelte.
Bleiche Finger stachen aus dem Brikett. Es gab keine andere Möglichkeit, das war eine Hand.
»Gerd?« Karl Wiesner hatte den Streit mit seinem Sohn vergessen, als er den Namen flüsterte.
»Ja…«
»Leide ich an Halluzinationen?«
»Nein, Vater.«
»Dann siehst du auch, was ich sehe?«
Gerd nickte.
»Sag es.«
»Eine Hand. Aus dem Brikett ragt eine Hand! Ich sehe sie ebenfalls. Verdammt auch!«
Die Wiesners waren beide totenblaß geworden. In den nächsten Sekunden standen sie nur da, starrten auf die Finger und konnten kein Wort sagen.
Gerd fühlte sich sogar noch mieser als sein Vater. Der Siebzehnjährige konnte es nicht fassen, und er merkte, daß seine Beine anfingen zu zittern.
Angst umkrallte sein Herz. Es war ein schreckliches Gefühl, und am liebsten wäre er fortgelaufen.
»Da müssen wir wohl die Polizei rufen«, sagte Karl Wiesner und atmete tief durch.
»Und dann?«
»Sollen die sich darum kümmern. Komm ins Haus!« Karl Wiesner warf noch einen letzten Blick auf das Kohlestück. Er traute sich nicht, es anzufassen. Zu makaber war dieser Fund.
Und auch außergewöhnlich. Bei den Abbauarbeiten wurde zwar viel gefunden, doch das waren Funde aus der Vergangenheit. Sie stammten aus den frühen Jahren der Erdgeschichte, Versteinerungen von Pflanzen und manchmal von Tierskeletten. Aber die Hand zeigte keinerlei Anzeichen von Verwesung.
Eine schaurige Sache.
Sie gingen durch den schmalen Gartenstreifen an der Seite und betraten das Haus von vorn. Lisa Wiesner war nicht anwesend. Mit zwei anderen Frauen war sie an diesem Samstag nach Köln gefahren, um einzukaufen. Der Zug kam erst am späten Nachmittag zurück, so daß die beiden Männer allein zu Hause waren.
Das Haus war nicht sehr groß. In der schmalen Diele stand das Telefon auf einem kleinen Tisch, dicht neben der Treppe.
Karl Wiesner legte seine schmutzige Hand auf den Hörer und zögerte.
»Willst du nicht anrufen, Vater?«
»Ich weiß nicht so recht.«
»Du mußt die Polizei verständigen, wirklich. Nachher geraten wir noch in den Verdacht.«
»Wieso? Was sollten wir denn getan haben?«
»Lehre du mich die Bullen kennen. Die habe ich bei einer Demonstration erlebt. Das war verdammt heiß, kann ich dir sagen. Nein, ruf sie an, dann ist alles erledigt.«
»Und wen?« Wiesner war durcheinander.
»Ich kenne keinen. Aber den Dorf-Sheriff kannst du dir sparen. Heute ist Samstag, da hockt er in der Kneipe, spielt Karten und ist vielleicht schon breit.«
»Hör auf, Junge! Mehr Respekt!«
»Vor den Bullen?« Gerd lachte kieksend. »Nee, das kannst du von mir nicht verlangen.«
Normalerweise hätte Karl Wiesner härter reagiert, denn unter den Polizisten befanden sich einige Freunde von ihm. Doch der Schock des makabren Fundes saß einfach noch zu tief in ihm. »Gib mir mal das dicke Telefonbuch!«
Gerd mußte es aus dem Wohnzimmer holen. Seine schmutzigen Sohlen hinterließen auf dem
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