030 - Die zweite Realität
das pulsierende Nachtleben Berlins. In der Zeit nach der Jahrtausendwende hatte sich die Hauptstadt von Deutschland zum heimlichen Zentrum Europas entwickelt, die Stadt boomte und pulsierte. Wieder hier zu sein und das brodelnde Leben zu fühlen, kam für Matt einem Wunder gleich - bei seinem letzten Besuch war die Stadt an der Spree eine Landschaft aus Ruinen gewesen. Amazonen hatten die degene- rierten Männerstämme unterdrückt und auf großen Säbelzahntigern Jagd auf sie gemacht.
Mein Gott - erst aus der Distanz wurde Matt bewusst, welchen hanebüchenen Unsinn er sich da zusammen geträumt hatte. Amazonen im Reichstag! Säbelzahntiger! In Zivil schlenderte er den breiten Bürgersteig hinab, blieb hier und dort stehen, wenn Straßenkünstler oder Musikanten ihre Werke zum Besten gaben. Bei einem Duo, das aus einem betagten Geiger und einer jungen Frau bestand, die mit heller Stimme sang, blieb er ein wenig länger stehen - die beiden erinnerten ihn an Yorl und seine Tochter Sam, denen er im Dorf der Narka begegnet war… Energisch wandte sich Matt ab, schüttelte unwillig den Kopf. Wenn er nicht wollte, dass man ihn irgendwann in eine Zwangsjacke steckte, musste er lernen, sich von der Vergangenheit zu verabschieden und akzeptieren, dass sie nicht real gewesen war. Nur ein übler Streich, den ihm sein Unterbewusstsein gespielt hatte, nichts weiter… Er ging weiter, passierte ein Gebäude, dessen Front mit allerlei mystischen Symbolen verziert war, die in aufdringlichen Neonfarben leuchteten.
Über dem Eingang prangte ein Schild, das »Church of Floydology« lautete. Matt lachte lautlos in sich hinein. Hank hatte ihm davon erzählt. Einer der beiden Kerle, die den Kometen entdeckt hatten, hatte seine weltweite Berühmtheit genutzt, um sich zum Guru einer Sekte aufzuschwingen, die jenen achten Februar vergangenen Jahres als Beginn einer neuen Zeitrechnung betrachtete. Die Floydologen waren zahlreich; binnen der letzten fünfzehn Monate waren überall auf der Welt Niederlassungen ihrer Sekte wie Pilze aus dem Boden geschossen - und Archer Floyd war mit seiner Idee reich geworden. Wenigstens einer, der aus dem Beinahe-Untergang der Erde Kapital geschlagen hatte, dachte Matt bitter. In Gedanken versunken kam er an einer Telefonzelle vorbei, blieb abrupt stehen.
Vielleicht hatte Sirwig ja Recht. Vielleicht entsprangen einige der Probleme, die Matt hatte, tatsächlich einem gewissen Defizit… Kurz entschlossen betrat Matt die Telefonzelle, wählte die Nummer der Vermittlung und meldete ein R- Gespräch an. Dann nannte er die Nummer, die er während all der Fährnisse, die er in den vergangenen Monaten hatte überstehen müssen, nie vergessen hatte. Schon deshalb nicht, weil es einmal seine eigene Telefonnummer gewesen war… Es klickte in der Leitung, dann begann es zu tuten, gedämpft und gleichmäßig. Zwei Mal. Drei Mal. Dann, plötzlich, eine Frauenstimme. »Ja?« Mann, dachte Matt bei sich. Tut verdammt gut, ihre Stimme zu hören…
»Hallo?«, erkundigte sich die Frau. »Melden Sie sich gefälligst…«
»Hallo Liz«, sagte Matt leise. Für einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. »M… Matthew?«, kam es dann zögernd.
»Ja. Ich… ich dachte mir, ich ruf dich mal an.«
»Dann… bist du aus dem Krankenhaus raus?«
»Ja, Liz. Ich bin wieder auf dem Damm.«
»Schön für dich.« Ein wenig verwirrt nahm Matt zur Kenntnis, dass Liz' Stimme keinerlei Regung verriet.
Sie schien sich kein bisschen darüber zu freuen, dass er wieder unter den Lebenden weilte - schon viel eher hatte er das Gefühl, dass sein Anruf ihr irgendwie ungelegen kam… »Liz, ich… ich möchte dich nicht stören. Ich wollte dir nur sagen, dass… dass mir Leid tut, was geschehen ist. Es hätte nicht so zu kommen brauchen. Ich war ein verdammter Idiot.«
»Was du nicht sagst.«
»Vielleicht… können wir uns demnächst mal treffen. Ich könnte Urlaub nehmen und rüber kommen in die Staaten. Dann können wir über alles reden und…«
»Da gibt es nichts mehr zu bereden, Matt. Es ist vorbei.«
»Ich weiß, Liz. Es ist nur… es gibt so viel, das ich dir zu erzählen habe. Ich habe Dinge erlebt, die…«
»Matt, es tut mir Leid«, fiel ihm seine Exfrau ins Wort, »aber ich kann nicht länger sprechen. Ich bin nicht allein, wenn du verstehst…«
»Na klar.« Matt nickte, biss sich auf die Lippen. »Ich verstehe.«
»Machs gut, Matt. Gib auf dich Acht.«
»Okay. Du auch. Bye.«
»Bye«, kam die Antwort -
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