Das kleine Reiseandenken
Die große und die kleine Ingrid
Der Bahnsteig in Flensburg lag schmal und lang, fast weiß in der grellen Frühlingssonne. Lang und weiß und beinahe menschenleer. Wie blanke Fäden zogen sich die funkelnden Schienen gen Norden und verloren sich in der Ferne.
Ein paar Eisenbahnbeamte gingen über den Bahnsteig, ein Zollbeamter in grüner Uniform kam aus dem niedrigen Backsteingebäude, auf dem „Zoll – Douane“ stand.
Unter dem gewölbten Dach des Bahnsteigs saß auf einer Bank ein schmächtiges fünfzehnjähriges Mädchen. Ihre langen, goldbraunen Haare waren im Nacken zusammengebunden und hingen ihr über den abgetragenen, etwas zu klein gewordenen Mantel. An einem Lederriemen über der Schulter trug sie eine Tasche, neben ihr standein kleiner brauner Koffer und im Arm hatte sie eine Tüte mit vier Apfelsinen.
Sie folgte mit den Augen dem funkelnd blanken Schienenstrang, so weit sie konnte. Ein stilles, fast andächtiges Staunen erfüllte sie. In einer Stunde sollte der Zug abfahren. In einer Stunde sollte sie zum erstenmal in ihrem Leben über eine Grenze fahren, ihr eigenes Land verlassen und in eine neue, unbekannte Welt reisen, zu Menschen, deren Sprache sie nicht verstand und denen ihre – Ingrids – eigene Sprache fremd war. Bis hierher war Frau Kistenmacher mitgereist. Aber dann hatte sie sich verabschiedet und Ingrid sich selber überlassen. Frau Kistenmacher wollte weiter, hatte keine Zeit, mit Ingrid zusammen zu warten. Sie war ja auch wirklich nicht dazu verpflichtet. Es war ohnehin furchtbar nett von ihr, daß sie ihre Reise so lange aufgeschoben hatte, damit sie Ingrid wenigstens heil bis Flensburg bringen konnte. Frau Kistenmacher wohnte zu Hause neben ihnen. Als sie erfuhr, daß Ingrid nach Dänemark reiste, hatte sie gleich gesagt, sie könne es vielleicht so einrichten, daß sie bis Flensburg mit ihr zusammen fahren würde.
Beim Abschied hatte Frau Kistenmacher ihr genau Bescheid gesagt, daß sie bis dreißig Minuten vor Abfahrt des Zuges warten müßte. Dann kämen die Zollbeamten und Paßkontrolleure, und Ingrid sollte durch die linke Tür hineingehen. Da drinnen würde man ihren Koffer nachsehen und den Paß kontrollieren. Und wenn sie dann auf der anderen Seite hinauskäme, dann wäre da ein Schlagbaum auf dem Bahnsteig, der den Rückweg absperrte. Dann könne sie nicht wieder zurück.
Ingrid hatte aufmerksam zugehört, sie hatte genickt und alles verstanden. Ihre Augen folgten dem Zeiger auf der Bahnhofsuhr. Noch dreiviertel Stunden, bis der Nordexpreß einlaufen sollte.
Sie öffnete die Schultertasche und holte ihren Paß heraus. Es war ein beinahe feierlicher Paß, mit einem Lichtbild, denn Ingrid war ja schon fünfzehn, und sie würde vielleicht sechzehn sein, wenn sie zurückkehrte.
In der Paßmappe lag auch der Brief von Tante Agate.
Tante Agate…
Das war das merkwürdigste von allem. In ein fremdes Land zu fahren, das war schon etwas Besonderes; aber zu einem Menschen zu fahren, den man niemals gesehen hatte, zu einem Menschen, von dem man nur eine schwache, nebelhafte Vorstellung hatte…
Als der Brief mit der Einladung von Tante Agate gekommen war, hatte Tante Margrete von ihr erzählt, was sie wußte, und das war nicht viel.
Sie wußte, daß Ingrids Mutter in ihrer frühesten Jugend eine Stellung in einem Haushalt in Kopenhagen gehabt hatte. Es war damals nichts Ungewöhnliches, daß deutsche junge Mädchen im Ausland Stellungen annahmen. Denn die deutschen Mädchen waren tüchtig, sparsam, fleißig und bescheiden. Ingrids Mutter hatte eine Stelle bei einem Ehepaar Jespersen gehabt. Als sie nach Deutschland zurückgekehrt war und geheiratet hatte, kamen hin und wieder Briefe von diesem Ehepaar Jespersen, Grüße zu Weihnachten und zu Geburtstagen und so. Bei Ingrids Geburt ging an Jespersens auch eine Geburtsanzeige; für die kleine Ingrid traf dann ein Taufgeschenk ein. Eine kleine Halskette aus Silber, die Ingrid noch heute besaß.
Kurze Zeit darauf ging wieder eine Anzeige hinaus, aber den umgekehrten Weg und mit einem anderen Inhalt. Frau Agate Jespersen teilte den Tod ihres Mannes mit.
Jetzt wurden die Geschenke und Briefe seltener. Aber ein paar der Briefe existierten noch. Briefe mit dänischen Marken und „Fru Jutta Schramm“ als Adresse. Diese Frau Jespersen dachte wohl nie daran, daß es auf deutsch „Frau“ und nicht „Fru“ heißt! Aus diesen Briefen ging es hervor, daß Frau Jespersen – oder Tante Agate, wie sie sich selbst der
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