032 - Die magische Seuche
konstatieren. Aber diesmal ist die Ursache bekannt.“
Ich ging mit ihm. Die Weinhandlung war voller Menschen.
Ein Mann in weißem Arbeitsmantel empfing uns aufgeregt. „Wir haben ihn nach oben gebracht und aufs Bett gelegt. Aber ich glaube, Sie kommen zu spät. Es ist vor zwanzig Minuten passiert, genau um fünf Uhr. Er war im Hinterzimmer und hatte schon ein Gläschen getrunken, wie üblich. Da kam er plötzlich heraus, rief: Ich sterbe! Ich sterbe!, griff sich an die Kehle und fiel um wie ein Holzklotz. Dann haben wir ihn hinaufgetragen.“
Nelsy drängte sich durch die Menschen zur Treppe, wo Madame Bonnaire weinend auf der untersten Stufe saß.
„So ein Unglück!“ schluchzte sie. „Als ich Sie anrief, war ich noch nicht sicher, aber ich glaube, er ist gestorben, während wir ihn hinauftrugen.“
Wir liefen die Treppe hinauf. Drei oder vier Männer zogen sich diskret aus dem Zimmer zurück, als wir eintraten.
Ich warf einen Blick auf die Leiche.
„Untersuche ihn“, sagte Nelsy. „Und sag mir deine Meinung.“
Meine Untersuchung war bald zu Ende. „Schlaganfall“, sagte ich. „Da gibt es keinen Zweifel.“
„Das dachte ich mir gleich“, sagte die Witwe. „Immer habe ich ihm gesagt, daß er so enden würde, der Arme. Er war ein guter Mann, glauben Sie mir, Herr Doktor!“
„Hat er über Unwohlsein geklagt?“ fragte Nelsy.
„Nein. Aber jetzt erinnere ich mich, daß er nach dem Frühstück eine seltsame Bemerkung gemacht hat.“
„Ja?“
„Wir saßen im Hinterzimmer, da sah er mich plötzlich an und sagte: „Maria, es ist etwas Seltsames passiert: Als ich eben das Geschäft öffnen wollte – du warst noch oben –, drehte ich erst das Radio auf. Ich war noch ganz allein. Dann sperrte ich auf, und als ich von der Tür zurückkam, hörte ich aus dem Radio ganz deutlich eine Stimme: Joseph Bonnaire, Weinhändler aus Hercenat, Sie werden heute Nachmittag genau um fünf Uhr sterben. Dann kam die Musik wieder. Ich sah meinen Mann an und sagte: ‚Mein armer Mann! Das ist der Säuferwahn. Du hast schon Halluzinationen.’ Und er sagte: ‚Das war vermutlich das Gläschen zuviel, das ich gestern getrunken habe.’
Und dann machte ich ihm Vorwürfe, weil er zuviel trank.“
Der Chirurg und ich sahen uns an. Leon war sehr blaß, und ich glaube, ich war es auch.
Als wir wieder allein waren, rief er: „Es ist unglaublich! Es ist einfach nicht möglich!“
„Sicher, es ist unglaublich“, sagte ich. „Aber zwei erwachsene Männer, die die gleiche Stimme hören, welche ihnen ihre genaue Todesstunde vorhersagt, das ist, wohl kein Zufall mehr.“
Leon machte eine nervöse Handbewegung. „Aber er ist an einem Schlaganfall gestorben. Du hast es selbst konstatiert.“
„An einem Schlaganfall, stimmt. Aber vielleicht auch an etwas anderem.“
Ich schlief schlecht. Ich hatte einen Alptraum nach dem anderen und drehte mich dauernd von einer Seite auf die andere.
Nach dem Frühstück kam Leon und holte mich ab. Wir hatten beschlossen, zum Weißen Turm zu fahren, nicht so sehr um zu arbeiten, sondern um zu hören, was es Neues gab. Philippe hatte kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Und das beunruhigte uns ein wenig.
Es war Girod, der Koch, der uns öffnete. Sein teigiges Gesicht mit dem großen schwarzen Schnurrbart hatte einen furchtsamen Ausdruck.
„Wir möchten Philippe Ormeil sprechen“, sagte ich.
Er verzog ein wenig das Gesicht. „Das wird nicht möglich sein“, sagte er. „Er empfängt jemanden.“
„Hören Sie“, rief Leon. „Sie kennen uns doch, Sie wissen doch, daß wir befreundet sind.“
„Ich weiß. Aber ich kann Sie trotzdem nicht eintreten lassen.“
„Er ist doch nicht erkrankt?“ fragte ich.
„Nein. Ich weiß zumindest nichts davon.“
„Können wir einen anderen der Herren sprechen?“
„Sie sind alle sehr beschäftigt und möchten absolut nicht gestört werden.“
Als wir darauf bestanden, eingelassen zu werden, schloß Girod die Tür vor unserer Nase.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als nach Hercenat zurückzukehren. Wir waren sehr überrascht. Wir hatten vorgehabt, mit Philippe und seinen Kollegen über die seltsamen Umstände zu sprechen, unter denen Leonard Grel und Joseph Bonnaire ums Leben gekommen waren, denn diese beiden Fälle beunruhigten uns sehr.
Als wir daheim waren, versuchten wir, im Weißen Turm anzurufen, aber niemand hob ab.
Eine schreckliche Woche nahm ihren Anfang.
Wir hatten ausgemacht, daß die Nesys den
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