0356 - Die Tarot-Hexe
sich einquartiert hatte. Der Zwang in ihr, die Tarot-Karten für den Mann im weißen Anzug zu legen, der Zamorra genannt wurde, wurde immer stärker. Sie wußte, daß sie sich diesem Zwang ebensowenig widersetzen konnte wie dem Drang, dem Impuls, der sie hierher geführt hatte. Die Tarot-Karten zwangen sie zu ihrem Handeln.
Manche hatten Ysabeau die »Tarot-Hexe« genannt und damit gar nicht so unrecht.
Ihre Voraussagen – stimmten immer! Und sie beinhalteten einen Zwang, vor dem es kein Entkommen gab.
Ysabeau selbst war darüber alles andere als froh. Sie hätte viel darum gegeben, diese Gabe, diesen Fluch, nicht mehr zu besitzen, der ihr immer wieder das Schicksal anderer Menschen zeigte, nur nie ihr eigenes.
Und zumindest das empfand sie als Gnade. Sie wollte nicht wissen, wie ihre Zukunft aussah, wie lange sie noch mit diesem Tarot-Fluch leben mußte.
In ihrem Zimmer angekommen, öffnete sie die kleine Schachtel, in der sich die Karten befanden. Sie waren einfach gestaltet, nicht so prunkund prachtvoll, wie man sie in manchem Geschäft kaufen konnte, das sich auf diese magischen Dinge spezialisiert hatte. Dort gab es wahre künstlerische Wunderwerke, kaum bezahlbar und ein Genuß, wenn man sie betrachtete. Für Ysabeau waren die Tarot-Karten keine Kunstwerke, sondern Werkzeug, und entsprechend sahen sie aus. Einfach die Zeichnungen der Symbole, abgegriffen das Material vom häufigen Benutzen.
Sie wog die Karten in der Hand. Sie waren plötzlich unglaublich schwer und schrien förmlich danach, gemischt zu werden. Ysabeau nahm das Kartenspiel und warf es hoch in die Luft. Die Karten regneten auf Fußboden, auf Tisch, auf Stuhl, auf Bett des kleinen Zimmers herunter, wahllos verteilt. Ohne bewußt hinzusehen, sammelte Ysabeau sie wieder ein, mit der Deckseite nach oben legte sie sie zusammen, mischte sie noch einmal normal und begann sich dann ihrem Gespür hinzugeben, das ihr sagte, welche Karten sie auszulegen hatte.
Mit geschlossenen Augen griff sie zu und sah vor sich wieder diesen hochgewachsenen Professor. Sie legte die Karte vor sich auf den Tisch.
Jetzt die zweite Karte – den Gegenpart.
Ysabeau Derano öffnete ihre Augen wieder. Sie zitterte. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, doch noch konnte sie nicht trinken. Sie konnte die Befragung der Karten nicht unterbrechen.
Zwei Karten nur brauchte sie – ihr innerer Drang hatte es ihr gesagt.
Manchmal benötigte sie viele Karten, um die Verästelungen des Schicksalsweges zu erkennen und Alternativen zu zeigen. Diesmal waren es nur zwei.
Eine für die Person, eine für den Gegenpart.
Langsam griff ihre Hand zu, deckte die erste Karte auf.
Die Sonne.
Die höchste positive Karte überhaupt. Sonne, Wärme, Leben, Licht.
Das war Professor Zamorra.
Langsam tastete Ysabeau nach der zweiten Karte. Sie schloß sekundenlang die Augen, während sie sie aufdeckte. Dann öffnete sie die Lider wieder.
Die Karte vor ihr war – der Tod.
***
Zamorra duckte sich unter dem Hieb weg. Eine Faust, die etwas Kantiges, Hartes hielt, schlug gegen dieWand. Zamorras Hände zuckten hoch.
Ein schneller Abwehrgriff, reflexhaft ausgeführt, warf die dunkle Gestalt zurück.
Sollte das Raffael sein?
Zamorra rief seinen Namen.
Ein heulender Laut erklang, wie aus der Kehle eines Wolfs. Im nächsten Moment war die Gestalt in der Dunkelheit verschwunden. Zamorra hörte die Holztür krachen. Er sprang dem Geräusch nach, riß die Tür wieder auf. Seine Hand tastete nach dem Lichtschalter für den dahinterliegenden Raum, drehte das altertümliche Ding. Es knackte nur. Das Licht sprang nicht an. Die gesamte Stromversorgung hier unten war verloschen.
Zamorra lauschte in die Dunkelheit.
Aber da war nichts. Nur lautlose Finsternis. Keine Atemzüge, keine schleichenden Schritte.
»Raffael… ? Kommen Sie heraus! Ich tue Ihnen nichts…«
Narr! Drohe ihm, daß du ihn vernichtend angreifst, daß du Magie einsetzt!
Aber Zamorra konnte diesem alten Mann nicht drohen. Er brachte es einfach nicht fertig.
Aber er wagte auch nicht, einen weiteren Schritt in den dunklen Raum zu tun. Er hatte nicht mehr genau im Gedächtnis, was hier aufbewahrt wurde und wie diese Kellerkammer aussah. Aber es gab überall Möglichkeiten, sich zu verstecken, und noch mehr Möglichkeiten, jemanden hinterrücks zu überfallen. Und wenn es nur eine Weinflasche war, die aus dem Regal genommen und dem Opfer über den Kopf geschlagen wurde…
Weinflasche, durchzuckte es Zamorra. Er griff tastend nach rechts,
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