0356 - Die Tarot-Hexe
sie von der gerade sechzig Kilometer langen Strecke ab in ein kleines Dorf, das von einem dämonisch wachsenden Wald eingeschlossen wurde. Es war eine Falle gewesen, eigens für Zamorra gedacht, und um ein Haar wären nicht nur Nicole und er, sondern auch sämtliche Bewohner dieses Dorfes ums Leben gekommen. [1]
Aber jetzt, am späten Nachmittag, waren sie wieder unterwegs.
Sie kannten die Strecke auswendig, waren sie hunderte Male gefahren oder hatten sich von Raffael chauffieren lassen, wenn sie zum Flugzeug nach Lyon mußten.
Vor ihnen tauchte unten an der Loire das kleine Dorf auf. Am Hang, oben am Ende der Serpentinenstraße zwischen den Feldern und nahe den Weinbergen, erhob sich Château Montagne im Licht der Nachmittagsonne.
Diese Mischung aus Schloß und befestigter Anlage, in den Ursprüngen von Leonardo deMontagne zur Zeit des ersten Kreuzzuges erbaut, wirkte bei weitem nicht mehr so freundlich wie einst. Die schwarzen Ruinen, die leeren Fensterhöhlen, das alles machte einen bedrohlichen, erschreckenden Eindruck. Es wirkte trotz des Sonnenscheins deprimierend.
Die Felder und Weinberge ringsum wirkten da schon wesentlich erfreulicher.
Die Ländereien gehörten zum Château, waren aber an die Bauern der Umgebung verpachtet. Das brachte einiges an Geld, die »Grundrente«, wie Zamorra bisweilen scherzhaft bemerkte. Andererseits nahm Zamorra aber nicht nur Geld ein, sondern er unterstützte die Pächter auch, wann immer sie Hilfe brauchten, mit kräftigen Finanzspritzen.
Von den Hilfsaktionen vor einigen Jahren bei den Überschwemmungskatastrophen an der Loire entlang sprach man heute noch. Es war irgendwie eine verschworene Gemeinschaft, in der sich der eine auf den anderen verlassen konnte.
Nicole lenkte den Wagen über die Hauptstraße und blieb schließlich vor der Gaststätte stehen. Hier gab es auch Zimmer. Fragend sah Nicole Zamorra an. »Quartieren wir uns hier ein, oder wohnen wir wieder zu Hause?«
Zu Hause, wie das klang! Aber war es in diesem Zustand denn noch ein Zuhause?
»In der Ruine? Ne…«
Sie stiegen aus. Rechts und links der Straße standen Bäume in den Vorgärten der Häuser, deren Laubkronen an dieser Stelle die direkte Sicht auf das Château verhinderten. Zamorra und Nicole gingen zum Gasthaus hinüber. Drinnen herrschte trotz der Nachmittagsstunde bereits Betrieb.
Zamorra hatte, bevor er eintrat, an der gegenüberliegenden Straßenseite einen großen Audi 100 gesehen, der Pariser Kennzeichen trug. Wer wohnte denn in Paris und war so unpatriotisch, wie Zamorra einen ausländischen Wagen zu fahren?
Einen Teil der Leute in der Schankstube kannte Zamorra. Da war der junge Pascal Lafitte, da war André Vaultier, der Dorfpolizist, und da war Brandmeister Gervais von der Feuerwehr in Feurs, die auch für diese Gegend mit zuständig war. Und da war Pierre Mostache, der Wirt. Die drei Männer in dezenten Anzügen waren Zamorra ebenso unbekannt wie die blonde Frau, die an einem der hinteren Tische im Schatten vor einem Glas Weißwein saß.
Als Nicole und er eintraten, flogen die Köpfe herum. Eine Diskussion wurde unterbrochen.
»Ah – da sind Sie, Professor!« rief Pierre. »Welche Überraschung!«
Zamorra blieb stehen. »Hin und wieder zieht es mich doch in die Heimat«, sagte er schmunzelnd. »Stören wir?«
»Sie sind Professor Zamorra?« sprach ihn sofort einer der Anzug-Typen an. Er wirkte ein wenig wie lackiert. Er schien aus einem vergangenen Jahrzehnt zu kommen mit der Pomade im Haar. »Gut, daß Sie sich auch mal wieder in Frankreich sehen lassen. Bisher hatten wir nur das Vergnügen, mit Ihrem Anwalt korrespondieren zu dürfen. Wir haben ein berechtigtes Interesse…«
Zamorra trat ein paar Schritte näher und blieb direkt vor dem Sprecher stehen, dessen Worte einen angriffslustigen Tonfall aufwiesen.
»Höfliche Leute pflegen sich erst vorzustellen, bevor sie mit ihrem Monolog loslegen. In der Tat, mein Name ist Zamorra. Und mit wem habe ich das eigenartige Vergnügen?«
Der Gelackte schluckte. Seine Augen wurden groß, gleichzeitig senkte er die Brauen. Ein anatomisches Phänomen, fand Zamorra.
»Graque«, sagte der Gelackte. »Doktor François Graque. Ich bin Mitarbeiter der Versicherungsgesellschaft, die Ihren rauchenden Trümmerhaufen am Hang finanzieren soll. Das hier sind meine Kollegen Perret und Grenoine…«
»Und mich interessiert absolut nicht, was Sie mir zu erzählen haben, sofern Sie sich nicht unverzüglich einer gepflegten Ausdrucksweise
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