0357 - Die Treppe der Qualen
Das Skelett schimmerte so, als hätte man es mit einer hellen Farbe angestrichen und danach lackiert. Jeder einzelne Knochen glänzte, auch um den knöchernen Kopf herum war die Farbe verteilt worden, so daß sie sogar die einzelnen Knochenteile zusammenhielt.
Myxin schüttelte sich, als er sich über das Überbleibsel hinwegbeugte, das einmal seine Mutter gewesen war. Erst jetzt fand er den Mut, die Knochen anzufassen. Sie mußten sich nach der Auflösung wieder neu gebildet haben und waren jetzt Totenknochen.
Leichenknochen, das wußte er, beinhalteten eine gewisse Kälte, die sich auch auf die Finger des Anfassenden übertrug. Hier erlebte Myxin ein anderes Phänomen.
Das Skelett enthielt Wärme. Und Wärme bedeutete im Prinzip Leben. Auch hier bei dieser Toten?
Myxin war durcheinander. Er kannte seine eigenen Kräfte genau, und er wußte, daß die Person, die er einmal getötet hatte, durch nichts wieder ins Leben zurückgerufen werden konnte.
Aber seine Mutter war eine andere, ein Teil von ihm, ein Stück von ihm. Sie hatte ihm eine dämonische Erbmasse mitgegeben, nun mußte er damit fertig werden, sie umgebracht zu haben.
Warnungen hatte es gegeben. Aber nicht genug und auch nicht konkret. Myxin hatte beim besten Willen aus ihnen nichts hervorlesen können, so war es eben zu dieser Tat gekommen, zu der sich der Magier durch seinen Machthunger hatte hinreißen lassen.
Er dachte an ihre letzten Worte und auch daran, daß sie im gewissen Sinne von einer Rückkehr gesprochen hatte.
War das Spiel noch nicht beendet?
Alle anderen Dinge waren in diesen Augenblicken für den kleinen Magier zweitrangig geworden. Er dachte auch nicht mehr an sein Vorhaben, den Schwarzen Tod zu besiegen.
Nur die Tote zählte.
Noch einmal umfaßte er das Skelett. Er preßte dabei seine Hände gegen den Knochenkopf und spürte abermals das innere Vibrieren und die Wärme, die von diesem Schädel ausging.
Sie erreichte auch seinen Körper, so daß Myxin plötzlich von einem Gefühl der Verbundenheit sprechen konnte, das zwischen ihm und seiner Mutter bestand.
Er hatte sie getötet, und er war auch bereit, die Folgen für diese Tat zu tragen.
Der kleine Magier beugte seinen Oberkörper nach vorn, damit er die Knochengestalt umfassen konnte. Er schob seine Hände unter die blanken Achselhöhlen und spürte wieder die Wärme, die der Skelettkörper abstrahlte.
Er nahm seine tote Mutter auf die Arme.
Langsam drehte er sich um.
Myxin hatte die Arme angewinkelt. Auf ihnen lag das Skelett. Die Knochenbeine waren angewinkelt, die Füße schaukelten hin und her, und der weiße Schädel pendelte an der anderen Seite des Armes über die Beuge hinweg, wobei Myxin direkt in die völlig leeren Augenhöhlen schauen konnte.
Erst jetzt erlebten auch das Schiff und die zahlreichen Geister den Tod und das Ende ihrer Königin mit.
Kräfte, die bisher im Innern des großen Bootes gelauert und gewohnt hatten, kamen frei.
Myxin sah, daß die huschenden Geistwesen den langen Gangerhellten.
Es waren schemenhafte Gestalten in einem bleichen Weiß.
Gespenstisch anzuschauen waren ihre verzerrten Gesichter. Und die Gestalten rasten in einem wilden Chaos durch den Gang und drehten sich, wenn sie das Ende erreicht hatten, um wieder an Myxin vorbeizuhuschen und durch die offene Tür in Richtung Deck zu verschwinden.
Dort heulten und tobten sie auf dem Deck umher. Sie jagten dicht über die Planken, wirbelten den beiden Segelmasten entgegen, umkreisten sie und wischten dort spiralförmig in die Höhe, so daß sie schnell die oberste Stelle erreicht hatten, hier ihre Kreise drehten und wieder nach unten dem Deck entgegenstürzten.
Manche Gestalten besaßen auch ein grünliches Schimmern. Alle zeigten jetzt ihre bleichen, fratzenhaften Gesichter, wobei einige von ihnen schon zum Teil in die Verwesung übergegangen waren und vorstehende Knochenstücke wie scharfe Splitter aus dem Gesicht stachen.
Myxin wurde umtost und umheult. Leise, aber dennoch für ihn zu hörende Laute gellten an seine Ohren. Sie verfluchten und beschrieen ihn. Sie jammerten und heulten, jaulten und wimmerten, stießen vonbeiden Seiten gegen den Magier und wirbelten wieder raketenartig davon, wenn sie ihn berührt hatten.
Myxin erreichte den Niedergang.
Für einen Moment blieb er stehen und schaute hoch in den düsteren Himmel.
Hoch über ihm wuchsen die Masten in das Grau der Nacht. Umtanzt und umglüht von den unheimlichen Gestalten, die jetzt ohne Anführerin waren.
Nach
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