037 - Klinik der Verlorenen
abwarten.«
Ich war verzweifelt.
»Doktor«, warf ich schüchtern ein, »das ist schrecklich. Wenn ich meine Arbeit nicht bald wieder aufnehme, verliere ich sie vollends. Könnte ich die Injektionen nicht daheim bekommen?«
Er schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein. Ich werde sie selbst geben, aus bestimmten Gründen …«
Ich sah wohl sehr unglücklich aus, denn er nahm meine Hand in die seine.
»Wollen Sie mich so bald wieder verlassen?« Er strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Sie haben herrliches Haar, Elise. Und eine vollendet schöne Figur.« Er sagte es, ohne zu lächeln.
Ich errötete. Es war lange her, seit man mir die letzten Komplimente gemacht hatte. Er bemerkte meine Verlegenheit, fuhr aber fort: »Ich glaube, wenn ich Sie früher kennen gelernt hätte, hätte ich den Verstand verloren vor Verlangen nach Ihnen. Aber das Leben ist nicht immer so, wie man es sich wünscht.«
Er seufzte. »Sie sind mir zu lieb, als daß ich Ihre Gesundheit vernachlässigen könnte. Ich muß darauf bestehen, daß Sie noch hier bleiben Verstehen Sie das, Elise?«
»Nein, Herr Doktor … Das habe ich nicht erwartet …«
»Nennen Sie mich Eric. Sind wir nicht gute Freunde? Lise, einmal in den nächsten Tagen machen wir zusammen einen kleinen Ausflug, wollen Sie? Ans Meer – ja?« Ich nickte. »Gut«, sagte er. »An einem Sonntag, wenn ich nicht Dienst habe.«
Meine Freude war zu groß, als daß ich ein Wort hervorgebracht hätte. Er erhob sich, blieb einen Augenblick lang vor Rosys Bett stehen und beugte sich dann über Olga.
»Hat sie Unruhig geschlafen, heute Nacht?« fragte er uns.
Plötzlich erschien die Szene der vergangenen Nacht vor meinen Augen.
»Wir hätten es nicht bemerkt«, sagte ich. »Wir bekamen ja Schlafmittel …«
Er schien erleichtert.
»Das habe ich ganz vergessen. Also, bis auf später.«
Ich blieb mit meinen Gedanken allein. War also Ariane doch nicht seine Geliebte? Er wußte, daß wir Freundinnen waren, und hätte mich wohl nicht zu einem Ausflug eingeladen, wenn zwischen ihm und Ariane mehr als freundschaftliche Beziehungen geherrscht hätten.
Mir fiel ein, daß ich vergessen hatte zu fragen, ob wir Dominique besuchen dürften. Aber im Augenblick hatte ich aufregendere Dinge, mit denen ich mich beschäftigen konnte …
Schwester Eliane kam mit einer neuen Patientin herein, einer jungen, sehr schüchternen Frau, die ganz in Schwarz gekleidet war. Tränenspuren blinkten auf ihrem unhübschen Gesicht.
»Kommen Sie, Mademoiselle Rivenas«, sagte Eliane. »Meine Damen, hier haben Sie neue Gesellschaft, Mademoiselle Elisabeth Rivenas.«
Ihr Bett stand gegenüber, neben dem von Dominique. Rosy lag auf Nummer zwei, Olga auf Nummer fünf, ich auf Nummer sechs. Mit Dominique Martin waren wir zu fünft. Vier Betten standen noch leer.
Als Elisabeth mit gesenktem Kopf an mein Bett trat und mir die Hand reichte, sagte ich: »Kommen Sie, setzen Sie sich ein wenig zu mir und erzählen Sie, was Ihnen fehlt.«
»Es ist mein Kopf«, rief sie unter Schluchzen. »Ich verliere das Gedächtnis, habe vor allem Angst … Und manchmal habe ich Schwindelanfälle und muß mich an die Wand lehnen … Die Leute glauben, ich bin betrunken.«
Rosy hatte ihr Bett verlassen und stand bei uns, um zuzuhören. Gemeinsam versuchten wir sie zu beruhigen, aber sie schluchzte weiter vor sich hin. Schwester Eliane lief ins Zimmer. »Alle in die Betten! Der Herr Doktor kommt!«
Eric trat durch die Tür.
»Was soll das?« rief er böse. »Warum haben Sie Ihre Betten verlassen?«
Eine drohende Stille legte sich über den Raum. Eric ging zu Elisabeth und sagte eisig: »Mademoiselle Rivenas, wollen Sie bitte Ihr Aufnahmeansuchen ausfüllen? Und dann legen Sie sich bitte zu Bett. Sie werden abends ein Schlafmittel erhalten, und morgen wird mit der Behandlung begonnen.«
Niemand wagte mehr den Mund zu öffnen. Schwester Eliane machte sich bei dem Tisch neben der Eingangstür zu schaffen, um ihrem geliebten Chef gegebenenfalls an die Hand gehen zu können.
Ariane sah man fast nicht mehr. Ich wartete vergebens auf ihr Kommen.
Plötzlich sprang Olga auf und schrie: »Ich will sofort hinaus. Ich habe genug von hier. Laßt mich weg! Wo sind meine Kleider? Ich möchte meine Sachen wiederhaben und Weggehen von hier.«
Schwester Eliane warf sich auf sie und hielt sie mit ihren großen, kräftigen Händen fest.
»Arme Kleine«, sagte sie mütterlich. »Sie haben Hunger, das macht Sie nervös … Ich werde Ihnen
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