037 - Klinik der Verlorenen
benützen. Die Treppe, die hinabführte, reizte mich, aber ich war überzeugt, daß die Tür, die sie unterbrach, verschlossen war.
Langsam ging ich die drei Stufen hinab und drehte vorsichtig den Knauf an der Tür. Zu meiner großen Überraschung öffnete sie sich. Dahinter war es so schwarz wie in einem Tunnel.
Ich zögerte. Aber dann dachte ich daran, daß diese Gelegenheit nicht so bald wiederkommen würde, und ging weiter. Ich tastete mich in die Dunkelheit. Ich hatte das Gefühl, stundenlang hinabzugehen.
Unten gab es ebenso viele Türen wie im ersten Stock. Ich legte das Ohr an drei von ihnen, aber alles war ruhig dahinter.
Plötzlich blieb ich stehen. Hinter einer der Türen hörte ich ein lang gezogenes Wimmern und Stöhnen. Dann erhob sich schmerzliches Weinen. Ich hörte einen Schlag und dann einen kurzen, hohen Schrei. Nach dem Klang zu urteilen, war der Raum hinter der Tür schalldicht gemacht worden.
Das war also das ‚Hinterzimmer’! Ich war unfähig, mich zu bewegen, und meine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt.
Eine Stimme drang hinter der Tür hervor. Ich konnte die Worte nicht verstehen, obwohl ich mein Ohr gegen die Türfüllung preßte.
Plötzlich näherten sich die Schritte drinnen, und ich raste zurück zur Treppe, lief hinauf, so schnell ich konnte, und kehrte in den Schlafsaal zurück. In meinem Bett dachte ich nach. Olga und Dominique waren im Hinterzimmer. Man behandelte sie dort, das sagte man uns. Was tat man wirklich mit ihnen? Ein Mensch, der so stöhnte, mußte Unbeschreibliches erleiden. Wartete das gleiche Schicksal, was auch immer es war, auch auf uns?
Ich erwachte aus einem unruhigen Schlaf durch ein schmerzhaftes Ziehen in meinen Beinen. Innerhalb von Minuten hatte sich dieser Schmerz auf meine Arme, mein Gesicht und sogar auf meine Finger ausgedehnt. Ich versuchte, die Finger auszustrecken, aber es schien, als ob meine Knochen zu lang und die Haut zu eng wären.
Als Eliane unser Frühstück austeilte, sprang Rosy plötzlich im Bett auf und schrie: »Ich habe Hunger, Durst und Schlaf! Beeilen Sie sich doch!«
Eliane trat zu ihr und servierte ihr wortlos das Frühstück.
Jeanne, Elisabeth und ich sahen Rosy überrascht an. Sie war verändert. Die beiden Fältchen über ihrer Nasenwurzel waren verschwunden. Ihr Mund schien kleiner und ihre Lippen glatter. Als sie die Tasse an den Mund hob, verschüttete sie die Hälfte. Ihre Bewegungen waren ungeschickt und tapsig.
Eliane stand vor ihr und riß die Augen entsetzt auf. Ich beherrschte mich. Die anderen kannten Rosy nicht von Anfang an, sie konnten die Veränderung daher nicht sehen. Ich wollte ihnen auch nichts davon erzählen. Wozu sollte ich sie beunruhigen?
Aber hatte Rosy nicht die gleichen Injektionen bekommen wie ich? Wahrhaftig! Es war dieselbe Schachtel gewesen, aus der Ariane die Ampullen genommen hatte …
Eine Welle von Horror überschwemmte mich. Ich wollte Rosy fragen, ob sie auch dieses Kribbeln und Stechen spürte wie ich, aber Eliane ging nicht aus dem Zimmer.
Als sie an meinem Bett vorbeikam, fragte mich die Krankenschwester leise: »Lise, finden Sie nicht auch, daß Rosy verändert ist?« Sie schien mir beunruhigt.
»Ja. Was hat sie bloß? Eine Herzkrankheit kann sich doch nicht so auswirken, oder?«
»Gestern war sie doch völlig normal, nicht wahr?« Sie schüttelte den Kopf, drehte sich auf den Absätzen um und verließ den Saal. Nachdem Schwester Eliane draußen war, sprang ich aus dem Bett und lief zu Rosy.
»Wie geht es Ihnen denn, Rosy?« fragte ich hastig.
Sie lächelte albern und kicherte: »Sehr gut, wunderbar – ganz herrlich. Kommt der Herr Doktor bald? Ich möchte ihn furchtbar gern sehen, aber ich habe so großen Schlaf, Lise. Wecken Sie mich auf, wenn er da ist?«
»Warten Sie ein bißchen, Rosy, es ist ja erst acht Uhr. Sagen Sie, wie hießen die Injektionen, die Sie erhielten?«
Sie klapperte mit den Lidern, steckte den Zeigefinger in den Mund und dachte nach.
»Ich weiß nicht mehr«, murmelte sie. »Es war ein schwieriges Wort … Warten Sie – Carso – Rasco … Nein, ich weiß nicht mehr.«
»War es vielleicht Rasconyn?«
Sie lachte wie ein kleines Mädchen und rief: »Ja, das war’s! Genau das stand auf den Ampullen.«
Ich erstarrte. Das stand auch auf denen, die ich erhielt. Schnell drehte ich mich um und ging in mein Bett zurück. Ich konnte Rosy nicht ansehen, sie benahm sich wie ein dummes Kind von elf oder zwölf Jahren. Waren die Injektionen für
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