0374 - Der Inka-Henker
nicht aufhalten lassen wollten. Erst recht nicht so dicht vor dem Ziel.
»Geh zur Seite, Alter! Krieche nach hinten. Wenn nicht, schlage ich mir den Weg frei!«
»Nein, das darfst du nicht. Du bist verloren!«
Der Spanier schüttelte den Kopf, während er gleichzeitig sein Schwert zog. »Nicht ich bin verloren, Alter, sondern du! Ich hatte dich gewarnt, du hast nicht gehört, und so dicht vor dem Ziel gibt ein Juan Lazarro nicht auf. Ich komme im Auftrag des spanischen Königs, der auch über dieses Land herrscht, und du wirst dich mir nicht in den Weg stellen. Es wäre so, als wolltest du versuchen, den König aufzuhalten, dessen Stellvertreter ich hier bin.«
»Nein!« Der alte Mann streckte beide Arme vor. Er rang dabei die Hände. Sein Gesicht verzerrte sich, und er schüttelte den Kopf, es war eine nutzlose Geste.
Juan Lazarro war von sich so überzeugt, daß er sich durch nichts aufhalten ließ. Zwei Schritte ging er vor. Auch einen dritten. Dabei jedoch stach er schon zu.
Er konnte mit dem Schwert umgehen, hatte sehr genau gezielt und die Klinge in den Raum zwischen die beiden ausgestreckten Arme des Wächters gedrückt. Er traf.
Der Alte wankte. Blut lief aus seiner tiefen Brustwunde und benetzte die von Lazarro zurückgezogene Klinge. Aus kalten, erbarmungslosen Augen schaute der Spanier auf den allmählich in die Knie sinkenden alten Mann, der den Mund weit aufgerissen hatte und sein letztes Röcheln hören ließ, bevor er zur Seite fiel und starb.
Der Weg war für den Spanier frei.
Er verschwendete keinen Gedanken mehr an den Toten, als er über ihn hinwegstieg und auf das starrte, was vor ihm lag. Der Gang öffnete sich zu einer Kammer, die von keiner verschlossenen Tür versperrt wurde, so daß Lazarro einen freien Durchblick bekam.
Noch konnte er nicht viel erkennen. Er mußte einige Schritte weitergehen und entdeckte erst dann den einzigen, sich in der Kammer befindlichen Gegenstand.
Es war der Henker!
Das Gefühl, das Juan Lazarro in diesem Augenblick durchströmte, konnte er nicht beschreiben. Die hinter ihm liegenden Strapazen waren vergessen, nicht mehr da. Jetzt zählte nur noch die Gegenwart und damit die Statue.
Der Henker…
***
Er hatte nicht über die Worte nachgedacht. Wieso kamen die Inkas überhaupt auf den Begriff Henker? Wahrscheinlich war es ähnlich wie in der Alten Welt, wo ebenfalls Henker beschäftigt waren, die die Urteile der Richter und Großinquisitoren ausführten.
Um die Statue genauer erkennen zu können, mußte er näher an sie heran. Das Licht der Fackeln reichte einfach nicht aus, um den gesamten Raum zu erhellen, das meiste blieb in der Dunkelheit zurück oder verschwamm im Dämmer des Schattenlichts.
Die Unheimlichkeit dieser Szenerie kam Lazarro überhaupt nicht zu Bewußtsein. Er fühlte sich wie berauscht, als hätte er zuviel von einem schweren Wein getrunken.
Mit gleitenden Schritten näherte er sich dem Ziel, und in seinen Augenbegann das Fieber noch stärker zu leuchten. Die Zungenspitze fuhr ausdem Mund und befeuchtete die trockenen, spröden Lippen.
Unbeweglich stand die Statue vor ihm. Wie konnte man von ihr behaupten, daß sie gefährlich war, auch wenn sie die Größe eines Menschen aufwies. Juan Lazarro trat so dicht an sie heran, daß er fast gegen sie streifte, denn er wollte jede Einzelheit an ihr genau erkennen, bevor er sich daran begab und sie wegtrug.
Sie war außergewöhnlich. Im schwachen Licht der Fackel konnte er die Farbe nicht genau erkennen. Vielleicht war sie braun, gelb oder grau, was machte das schon?
Für ihn war die gesamte Gestalt wichtig. Und deren Aussehen gab ihm Rätsel auf.
Er hatte damit gerechnet, das Abbild eines Inkas zu sehen oder wenigstens die Fratze einer ihrer zahlreichen Götter, genau das Gegenteil wurde ihm hier gezeigt.
Die Statue sah menschlich aus, so völlig normal. Fast wie ein Engel, die von den einheimischen spanischen Künstlern modelliert und in den Kirchen aufgestellt wurden. Ein nahezu edles, fast zu schönes Männergesicht, dessen weiche Züge auch innerhalb des Steins voll zur Geltung kamen und von einem wahren Spitzenkünstler gefertigt sein mußten. Die gerade Nase, die kaum geschwungenen Brauen und die geschlossenen Augen sowie die schmalen Lippen gaben dem Antlitz zusätzlich etwas Feierliches.
Das Haar war gescheitelt, wirkte dabei wie gekämmt und fiel mit seinen leicht nach innen eingerollten Enden bis auf beide Schultern.
Bekleidet war die Statue ebenfalls. Sie trug einen
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