038 - Bis die Ratten dich zerfetzen
Rauschen der See und sah das Glitzern
der Sterne. Die vertraute Umgebung seiner Koje.
Erleichterung
breitete sich in ihm aus.
Aber die
Schmerzen in den Beinen...
Es war
fürchterlich, es brannte wie Feuer, und Warner hatte das Gefühl, als würde
jemand seine Knochen abschaben.
Die Schmerzen
blieben, obwohl er wach war. Hatte ein Traum eine solche Nachwirkung?
Mit
zitternder Hand riß der dicke Amerikaner die Baumwolldecke zurück. Was er zu
sehen bekam, war die Fortsetzung seines Alptraums in der Wirklichkeit.
Der Kapitän
öffnete den Mund zum Schrei. Doch nur ein dumpfes Gurgeln drang aus seiner
Kehle.
Er sah das
blutverschmierte Laken, das angenagte Bein, und er mußte an die riesigen
Glaswürmer denken, die sich in seine Haut gebohrt hatten. Die Schmerzen waren
von den Ratten verursacht worden, und die Pein hatte ihn bis in den Traum
verfolgt, hatte ihn möglicherweise erst ausgelöst.
Ratten! Es
waren zwei, nein, drei. Vor seinen Augen flimmerte es. Er konnte nur die
schattigen Umrisse wahrnehmen, die sich manchmal hinter den Blutnebeln vor seinen
Blicken klarer herauskristallisierten.
Seine Beine
waren angefressen, wobei das rechte schlimmer aussah als das linke. Am rechten
Bein schimmerte schon der blanke Knochen durch.
Der
Amerikaner, vom Tode gezeichnet und wachsbleich, wollte sich blitzschnell auf
die Seite rollen. Aber seine Bewegungen erfolgten nur langsam. Der enorme
Blutverlust hatte ihn schon so geschwächt, daß es ihm schwerfiel, den Oberkörper
zu drehen.
Wie leblos
hingen die angenagten Beine an seinem Körper, und die Schädlinge schienen sich
gar nicht daran zu stören, daß ihr Opfer sich mit einem Mal bewegte. Sie waren
sich ihrer Beute sicher und ließen nicht locker.
Matt hob
Warner die Hände und schlug nach den kaninchengroßen, ausgehungerten Biestern,
die immer und immer wieder ihre spitzen Zähne in sein Fleisch bohrten.
Er schrie aus
Leibeskräften und ließ sich mit der Schulter gegen die Wand fallen, in der
Hoffnung, daß einer der Matrosen von nebenan ihn hörte.
Doch lautes
Motorengeräusch erfüllte die Luft und erstickte sein Rufen und Klopfen. In
seiner Todesangst nahm er noch einmal all seine Kräfte zusammen. Er erwischte
eine Ratte und wollte sie wütend auf den Boden werfen. Doch das Tier biß sich
an seinem Armgelenk fest. Und dann war da noch ein weiterer Schädling. Ein
vierter Nager. Den hatte er zunächst nicht bemerkt.
Warner wandte
den Kopf und sah den spitzen Schädel auf sich zuschnellen .
Die Ratte
erwischte den Amerikaner genau an der Halsschlagader. Das Vieh leckte das warme
Blut und ließ sich nicht mehr durch matte Armbewegungen verscheuchen.
Warner fiel
zurück. Sein schwerer Körper war wie ausgelaugt. Kalter Schweiß stand auf der
Stirn des Kapitäns.
Er hatte
immer darauf geachtet, die Sweet Home von Schädlingen freizuhalten. Er konnte
sich nicht erklären, woher diese Ratten kamen. Er hatte das Schiff immer
saubergehalten.
Vor seinen
Augen wurde es schwarz. Blut lief über seinen Körper und tropfte auf den Boden
der Kajüte. Warners Finger krallten sich in die Wand neben ihm, ohne daß ihm
das noch bewußt wurde.
●
»... und ich sage
euch, es war aussichtslos .« Jean Doree sah sich mit funkelnden Augen um. Er befand sich wieder in seinem Metier. Der
kleine drahtige Franzose, dem man seine 75 Jahre nicht ansah, war Mittelpunkt
des Abends.
Nach Wochen
der Zurückgezogenheit, die er in seiner Hütte am Rand Melbournes verbracht
hatte, zog es ihn wieder einmal unter die Menschen. Und wenn Doree auftauchte, dann war immer was los, dann kam Leben in
die Bude, wie der Wirt sich auszudrücken pflegte.
Helen Powell
hatte das Glück gehabt, von Dorees augenblicklichem Aufenthalt zu erfahren. Den ganzen Tag lang war sie unterwegs gewesen, in der
Hoffnung, den Franzosen zu treffen. Jedermann in der Hafengegend kannte ihn,
und doch wußte keiner so recht, wo er sich eigentlich aufhielt.
Erst am
späten Nachmittag war die Reporterin auf seine Spur gestoßen. Doree hielt sich seit kurzer Zeit im Sea Inn auf.
Hier gab er
eine seiner Schauergeschichten zum besten. Seemannsgarn, wie es reiner kaum
jemand zu spinnen vermochte.
Helen Powell
beruhigte ihre aufgepeitschten Nerven erst einmal durch einen ordentlichen
Drink. Sie begriff nicht, daß eine derartige lokale Berühmtheit der Peripherie
Melbournes ihr bisher nicht bekannt gewesen war. Jeder hier schien Doree zu kennen, und doch wußte keiner etwas Genaues über
ihn.
Der
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