Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
039 - Der Griff aus dem Nichts

039 - Der Griff aus dem Nichts

Titel: 039 - Der Griff aus dem Nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Vlcek
Vom Netzwerk:
kennen mich?“ wunderte sich Latimer. „Sollte ich Sie auch kennen, mein Herr? Was sagt meine Erinnerung dazu?“
    Ein Raunen ging durch den Raum, und dann ertönte von irgendwoher eine wesenlose Stimme.
    „Was die Augen sehen, ist der Erinnerung fremd.“
    „Sehen Sie, mein Herr, ich kenne Sie nicht“, sagte Latimer.
    „Aber Sie haben mich und Dorothy doch erst vor kurzem zum Sanatorium herausgefahren“, rief Dorian dem Alten in Erinnerung. „Besinnen Sie sich doch, Latimer!“
    „Fahren?“ sagte Latimer. Und dann wiederholte er schnell hintereinander: „Fahren-fahren-fahren? Das bedeutet dann Bewegung. Bewegen-bewegen-bewegen. Das bedeutet Freiheit, sich überallhin begeben können. Nein mein Herr, ich kann mich nicht bewegen.“
    „Bewegen!“ seufzte etwas irgendwo im Raum.
    Die Stimme schien von weit her zu kommen.
    Während ein vielstimmiger Chor immer wieder das eine Wort „bewegen“ wiederholte, begann ein weiterer Körperteil Latimers in dem magischen Licht zu leuchten. Es war sein Herz. Dorian sah es schlagen. Dorian hörte es pochen.
    „Wie ist es, wenn man sich bewegen kann, mein Herr?“ fragte Latimer. „Erzählen Sie es uns!“
    „Ja, wir hören!“ erscholl der schaurige Chor der Unsichtbaren.
    Und Latimers Herz pulsierte.
    Dorian wich instinktiv einen Schritt zurück und stieß gegen etwas Weiches, Warmes – Lebendiges. Eine Hand erschien aus dem Nichts und tastete über seinen Körper, und eine der wesenlosen Stimmen sagte: „Er fühlt sich gut an. Es ist ein ganzer Mensch.“
    Das magische Leuchten um Latimer weitete sich aus und erfaßte ein weit verzweigtes System von dicken, blutführenden Adern und feinsten Äderchen.
    „Er ist ein ganzer Mensch“, sagte der unheimliche Chor. „Und er ist frei und kann sich bewegen.“ Das magische Leuchten erhellte jetzt den Raum, so daß Dorian einen besseren Überblick bekam und sehen konnte, wo er sich befand.
    Alles um ihn herum lebte.
     

     

Der Boden unter Dorians Füßen war in ständiger Bewegung. Immer zuckte es irgendwo, hob oder senkte sich ein Teil, spannten sich Sehnen oder Muskeln. Vor Dorian türmten sich Berge von Muskeln, die mit einer glatten menschlichen Haut überzogen waren. Arme und Hände ragten daraus empor.
    Dorian sah Teile von menschlichen Rücken, die nahtlos in menschliche Becken übergingen. Obwohl die Teile wahllos miteinander verbunden waren, bildete die menschliche Landschaft eine homogene Einheit. Eines paßte zum anderen, alles gehörte zusammen. Es war ein riesiges Lebenskollektiv.
    Als Dorian einen Schritt nach vorne trat, um einer Hand zu entwischen, die nach ihm griff, spürte er, wie sich die Muskeln unter seinen Füßen erhärteten.
    Die Wände bestanden größtenteils aus freiliegenden, inneren Organen.
    Dorian sah an anderen Kollektivteilen Gesichter. Sie hatten nichts Menschliches mehr an sich, es waren verzerrte Fratzen, Karikaturen von Gesichtern, deren Augen, Ohren, Nasen und Münder mit geometrischer Exaktheit an Brustteilen oder Rückenteilen angeordnet oder auch einfach zwischen Muskelgebilden eingebettet waren.
    Die Decke war ein Kaleidoskop aus Organen. Dort pulsierte es, zuckte es, spannte sich an und zog sich zusammen.
    Und diesem gigantischen Lebenskollektiv gehörte auch Ben Latimer an.
    Dorian schwindelte. Wie war es möglich, daß Latimer diesem Lebenskollektiv einverleibt war? Latimer hatte ihn doch eben erst zum Sanatorium herausgefahren.
    „Mein Herr, wie ist es möglich, daß Sie sich fortbewegen können und wir nicht?“ fragte einer der unzähligen Münder.
    „Ja, wie ist das möglich?“ stimmte der Chor mit ein.
    „Antworten Sie uns, mein Herr!“
    Dorian spürte, wie etwas an seinem Hosenbein zerrte. Er trat nach der Hand, die ihn erfaßt hatte und zerrte sich gewaltsam los.
    „Ja, antworten Sie uns!“ erklang der Chor.
    „Er gehört nicht hierher“, rief ein Mund hinter Dorian.
    Er drehte sich um und sah das Gesicht eines wunderhübschen Mädchens, das von kurz geschnittenem schwarzen Haar umrahmt war.
    „Was sucht er hier?“ riefen alle zusammen.
    Dorian wandte sich jenem Teil des Kollektivs zu, dem Latimer angehörte. Er konnte es immer noch nicht fassen, daß der Alte derart verstümmelt war und daß seine Einzelteile über das gesamte Lebenskollektiv verteilt sein sollten. Es war noch keine Stunde her, daß er ihn in voller Lebensgröße vor sich gesehen hatte.
    „Erinnern Sie sich wirklich nicht mehr an mich, Latimer?“ fragte Dorian.
    Das Gesicht des

Weitere Kostenlose Bücher