039 - Der Griff aus dem Nichts
am Sunset Boulevard, wo er in meinen Lastwagen umstieg. Es war der köstlichste Augenblick meines Lebens, als ich mich ihm zu erkennen gab. Hoffentlich bettelst du nicht so sehr wie er um dein Leben. Immerhin bist du mein Bruder, Dorian. Vergiß nicht, daß in deinen Adern das Blut der Schwarzen Familie fließt.“
Dorian sah sich um und war zufrieden. Das Lebenskollektiv hatte sich immer noch nicht beruhigt. Das Klagen war sogar lauter geworden. Die vielkehligen Stimmen schrien durcheinander, fragend, bangend, ängstlich. Und da Dorian seinen dämonischen Bruder in ein Gespräch verwickelt hatte, war niemand da, der sie besänftigen konnte.
„Seid ihr glücklich?“ fragte Dorian provozierend. „Seid ihr damit zufrieden, nur schön zu sein und euch nicht bewegen zu können? Wollt ihr die Freiheit?“
„Die Freiheit?“
Ein Seufzen ging durch das Lebenskollektiv.
„Wir wollen frei sein! Wer gibt uns die Freiheit?“
„Da steht euer Schöpfer!“ rief Dorian und deutete auf Fuller-Latimer. „Wendet euch an ihn!“
Fuller sah, daß das Lebenskollektiv nahe daran war, sich seiner Kontrolle völlig zu entziehen. Er versuchte es mit besänftigenden Worten, aber das Klagen schwoll immer mehr an. In den Gehirnen hatte es zu arbeiten begonnen. Das Unterbewußtsein war angeregt worden. Die Erinnerung an längst vergangene Zeiten wurde wach. Die einzelnen Individuen entsannen sich ihres menschlichen Daseins, Bedürfnisse wurden geweckt, die Fuller bisher hatte unterdrücken können.
„Wer gibt uns die Freiheit? Wer macht, daß wir gehen können? Wie erhalten wir die Gabe zurück, uns nach Belieben bewegen zu können?“
„Fragt euren Schöpfer!“ rief Dorian.
Fuller sah sich in die Enge getrieben. Er mußte zurückweichen, als die Masse mit seinen Organen, Körperteilen und vielen Gesichtern näher an ihn heranrückte. Unter seinen Füßen erschlafften Muskeln, so daß er den Halt verlor. Hände fingen ihn auf und hielten ihn fest.
„Loslassen! Gebt mich frei!“ schrie Fuller verzweifelt. „Ihr seid schön, und das genügt.“
„Wir?“ fragte der Chor. „Bin ich wir? Sind wir wir? Wer sind wir? Wir-wir-wir …“
Die Fragen wurden immer verwirrender, immer dringlicher. Das Lebenskollektiv – die einzelnen Individuen – verlangte nach einer Antwort. Die Hände tasteten Fullers Körper ab, der sich verzweifelt zu wehren versuchte. Aber er konnte sich aus ihrem Griff nicht befreien. Sie hielten ihn eisern fest.
„Lewis, hole mich hier heraus!“ schrie Fuller aus Leibeskräften.
Seine Rufe hallten schaurig durch den Raum und wurden von den Mündern wiederholt.
„Lewis! Lewis! Lewis!“ rief der Chor.
Dorian spürte in seinem Rücken einen Luftzug und wirbelte herum.
Durch eine Öffnung im Lebenskollektiv drang der Verwalter herein. Er grinste teuflisch, als er Dorian erblickte.
„Jetzt gehörst du mir“, sagte er und breitete die Arme aus.
Hände krallten sich in seinen Beinen fest, aber Goddard befreite sich mit einem einzigen Ruck aus ihrem Griff, eine Hand, die sich um einen Knöchel verkrampft hatte, riß er einfach aus dem Lebenskollektiv heraus. Goddard lachte wild. Es schien, als haßte er das Lebenskollektiv und als würde es ihm unsägliches Vergnügen bereiten, es zu zerstören.
„Lewis! Hierher!“ schrie Fuller verzweifelt.
Plötzlich ging sein Rufen in einen markerschütternden Schrei über, und das Geräusch brechender Knochen war zu hören.
Dorian ahnte, daß das Lebenskollektiv seinen Schöpfer gerichtet hatte, aber er konnte keinen Triumph verspüren. Fullers Tod bedeutete noch nicht, daß er sich in Sicherheit befand. Das verrückt gewordene Lebenskollektiv würde auch ihn nicht verschonen. Außerdem mußte er noch mit Lewis Goddard und den anderen Superwesen rechnen.
„Weißt du, daß ich Lorna geliebt habe?“ sagte Goddard und breitete seine Arme aus, um Dorian zu zermalmen.
Dorian drückte ohne zu zögern ab. Die Kugel traf Goddard. Einige Sekunden stand er schwankend da, dann fiel er um. Die Arme des Lebenskollektivs fingen ihn auf und begannen, ihn zu untersuchen.
Dorian stieg über die Muskelberge hinweg, darauf bedacht, nicht in die Reichweite der um sich schlagenden und greifenden Hände zu kommen. Die Öffnung im Lebenskollektiv, durch die Goddard gekommen war, begann sich langsam zu schließen. Dorian konnte sich gerade noch hindurchzwängen.
Endlich befand er sich im Freien. Vor ihm lag der Hauptkorridor. Da sah er durch das Glasportal, daß im Park
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