0394 - Die Unheimliche vom Schandturm
Helfer zusammen, und es war nur ein Zufall, daß Rudolph Ricardis in diese Richtung schaute, so daß er die Katastrophe kommen sah. Wenn der Wind die Tür weiter öffnete, würde er in das Lagerhaus fahren und ein Chaos anrichten.
Der Kaufmann rannte los. Er sprang über den Bewußtlosen hinweg, brüllte mit Stentorstimme nach Hilfe, und aus dem Hintergrund lösten sich zwei Gestalten, die ihn bei seinen Bemühungen unterstützten, die Tür wieder ins Schloß zu drücken.
Es war eine verdammte Quälerei. Auch zu dritt hatten sie Mühe, gegen die heranjagenden Orkanwellen anzukommen. Hinzu kam die Schwere der Eichentür, aber sie schafften es, den gewaltigen Kräften zu trotzen. Die beiden starken Helfer, preßten sich mit ihren Rücken gegen die Tür und stemmten die Hacken ein. So bekam Ricardis Gelegenheit, den schweren und breiten Holzriegel von innen her festzuklemmen.
Das mußte halten.
Aufatmend trat er zurück. Rudolph Ricardis war ein dunkelhaariger, breitschultriger Mann mit einem flächigen Gesicht, gewaltigen Händen und einem Hammerkinn. Man sah ihm an, daß er sich hochgearbeitet hatte, und auch jetzt, wo es ihm gutging und er als Kaufmann anerkannt war, scheute er schwere Arbeit nicht.
Mit dem Hemdsärmel wischte er sich über die Stirn, grinste den beiden Helfern scharf zu und sagte schweratmend: »Das hätten wir geschafft.«
»Aber er nicht.«
Der Bewußtlose war gemeint. Ricardis kniete neben ihn, untersuchte den Mann und wies die anderen beiden an, ihn tiefer ins Lager zu schaffen, um ihn dort auf den Säcken niederzulegen. Da würde er schon irgendwann zu sich kommen.
»Wenn alles vorbei ist, spendiere ich ein Faß Bier«, erklärte er.
Das war etwas für die Helfer. Wenn sie ihr Kölsch trinken konnten, ging für sie die Sonnen auf.
Ricardis wandte sich wieder seiner eigentlichen Arbeit zu. Dieser Sturm paßte ihm überhaupt nicht. Eines seiner Schiffe war unterwegs nach Straßburg, und wenn der Kahn kenterte, riß der Verlust der Ladung ein großes Loch in seine Kasse.
Hier hatten sie getan, was getan werden mußte. Alle Waren waren festgezurrt, die Türen des stabilen und aus Stein errichteten Lagerhauses fest verschlossen und verriegelt.
Mehr konnte man nicht machen.
Im Schein der Kerzen schaute sich Ricardis um. Ja, es war alles so weit in Ordnung. Mochte der Sturm andere Hausdächer abdecken oder zerstören, sein Lager würde ebenso bleiben wie das Wohnhaus.
Dann erschrak er doch.
Das hohe Pfeifen und Heulen war Warnung genug. Von der Welt hatte er einiges gesehen, und er wußte auch, daß mit solchen und ähnlichen Geräuschen sich eine gefährliche Windhose näherte, die alles zertrümmerte oder mit sich riß, was sich ihr in den Weg stellte.
Wenn sie direkt auf das Wohnhaus zubrandete, konnte er für nichts garantieren.
Doch der Kelch ging vorbei.
Die Windhose richtete bei ihm keinen Schaden an, und ein flüchtiges Lächeln huschte über das breite Gesicht. Sie war auch der Höhepunkt gewesen, denn danach flaute der Sturm stark ab.
Jetzt erst erinnerte sich Rudolph daran, was er seiner Geliebten versprochen hatte. Er zog die Taschenuhr aus der Weste und stellte fest, daß Mitternacht seit neun Minuten vorbei war. Das machte nichts. Gretchen würde auf ihn warten. Sie benötigte ihn ebenso, wie er sie. Und deshalb sagte er seinen Helfern Bescheid, daß für ihn Feierabend war.
Der Fehltritt ihres Chefs hatte sich herumgesprochen, und sie grinsten verständnisvoll hinter ihm her, als er sich auf den Weg zu seinem Wohnhaus machte, das praktisch in einem Turm lag, aber einen Verbindungsgang zum Geschäft besaß.
Dieses blonde Gretchen war genau nach seinem Geschmack. Temperamentvoll, immer bereit, Liebe zu geben und zu empfangen, genau wie er, denn das hatte er gebraucht.
Es war schon ein glücklicher Zufall gewesen, der ihm dieses junge Blut beschert hatte. Unterwegs konnte er sich von den letzten Strapazen erholen. Forsch stieg er die Wendeltreppe in dem sechseckigen Turm hoch.
Rudolph Ricardis war stolz auf den Turm und auch auf sein kleines Liebesnest unter dem Dach. Dort hatte er herrliche Stunden mit dem sinnlichen Gretchen verbracht. Noch sehr jung war sie, aber unwahrscheinlich erfahren. Ein Naturtalent in Sachen Liebe. Wenn er an seine eigene Frau dachte, die ja nun verstorben war, nein, die hatte in den letzten Jahren nichts mehr gebracht. Nicht daß sie krank gewesen wäre, höchstens seelisch, aber daran war sie auch selbst schuld, denn sie hatte sich in
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