0396 - Leonardos Zauberbuch
Seine Krallenhände schwebten jetzt über dem Kopf des Priesters.
Gleich, dachte Gambino. Gleich schlägt er zu und reißt ihm den Kopf ab… Und in seiner Fantasie sah er die entsetzliche Szene schon plastisch vor sich. Aus den Nüstern des Dämons quoll schwefliger Gestank hervor. Funken sprühten aus seinem Maul, als er es öffnete. Aber diesmal lachte er nicht.
Gambino versuchte vergeblich, den Schatten des Dämons zu erkennen. Er besaß keinen Schatten…
Wie sollte er auch? durchzuckte es Gambino. Wie kann jemand einen Schatten werfen, der aus sich heraus leuchtet?
Sprich deinen Wunsch, und ich werde überlegen, ob es in der Macht des Fürsten steht, ihn zu erfüllen, hallte es in den Köpfen aller wider.
»Einer wird uns verraten«, sagte der Priester.
Durch die Anwesenden ging eine ruckartige Bewegung. Köpfe wurden unter den Kapuzen gedreht. Einer sah den anderen an. Einer wird uns verraten! Das war eine ungeheuerliche Behauptung, die der Priester von sich gegeben hatte. In der Sekte gab es keinen Verrat. Sie gehörten zusammen auf Gedeih und Verderb. Sie hatten sich der Sekte angeschlossen, um Macht und Einfluß zu gewinnen. Wie sollte da einer zum Verräter werden? Jeder profitierte doch von seiner Mitgliedschaft!
Es gab keine Kompromisse. Es gab nur den Gewinn! Weshalb also Verrat? Es war undenkbar.
Und doch hatte der Priester soeben diese Behauptung aufgestellt. Und er kannte sie alle, kannte jeden von ihnen. Und sie kannten ihn. Sie wußten, daß er immer recht hatte. Er irrte sich nie. Denn der Fürst der Finsternis hatte ihm als einzigem noch eine größere Gunst erwiesen als jedem anderen der Sekte: die Unfehlbarkeit.
Wenn der Priester behauptete, daß einer sie verraten würde, so hatte er recht.
Aber wer? Wer konnte so dumm sein, das, was er selbst gewonnen hatte, durch seinen Verrat wieder zu verlieren?
»Wir verlangen die Gunst, daß wir ihn bestrafen können, wie es ihm zusteht, daß wir ihn finden werden, wohin auch immer er flieht, und daß uns keine Macht der Welt dafür zur Rechenschaft ziehen wird.«
Ha, gellte der Dämon. Soll ich euch einen guten Rechtsanwalt empfehlen? Einen, der jeden Prozeß gewinnt? Mit ihm an eurer Seite habt ihr nichts zu befrachten, hahaha…
Das entsetzliche Lachen, das den Raum erfüllte und fast zum Bersten brachte, hallte jetzt auch in den Köpfen der Menschen auf. Der Dämon beherrschte die Szene.
Gambino sah einen Schatten, und erst beim zweiten Hinsehen begriff er, daß es nicht der Schatten eines Menschen war. Obgleich der Dämon aus sich selbst heraus leuchtete, warf er doch einen Schatten! Gambinos erste Beobachtung stimmte nicht mehr.
Doch der Schatten des Dämons bewegte sich nicht im Gleichtakt mit dem Dämon selbst. Er war losgelöst von ihm, huschte an den Wänden entlang, sich verformend, verwischend, ständig seine Umrisse ändernd. Er glitt durch die Finsternis, als suche er nach etwas. Oder nach jemandem…
Gambinos Herzschlag beschleunigte sich. Die dumpfe Furcht in ihm wurde intensiver.
»Spotte nicht! Du verstehst nicht, was wir wirklich begehren, Fürst«, rief der Priester.
Dicht über seinem Kopf schwebten die Klauen des Dämons. Der lachte immer noch.
Oh, du beweist Mut. Das gefällt mir. Du kriechst nicht in dir zusammen. Vielleicht werde ich tun, was du verlangst. Du willst, daß erst gar keiner erfährt, wer hinter der Strafaktion steht, daß, die Öffentlichkeit nichts davon erfährt, was auch immer geschieht, daß Erinnerungen verlöschen wie eine Kerzenflamme im Sturm… das ist es, was du willst? Nicht Straffreiheit - erst gar keine Anklage.
»Ja, Fürst«, sagte der Priester hart.
Ich werde dein Begehren erfüllen. Du kannst unbesorgt sein. Bestraft den Verräter. Doch fürchtet niemanden. Meine Macht schützt euch. Doch dafür verlange ich mehr als das armselige Opfer, das ihr mir brachtet.
»Was verlangst du?« stieß der Priester hervor.
Gambino hielt den Atem an.
Wieder lachte der Dämon. Ich habe es schon, gellte er.
Gambino sah, wie der Schatten über eine Kutte fiel, dann blitzschnell davonjagte und sich mit dem Körper des Dämons vereinte. Im gleichen Moment, als er sich über ihn legte, verlosch dessen Leuchten. Eine Schwefelwolke drang aus ihm hervor. Ein dumpfes Krachen ertönte, ein Zischen, anhaltendes Donnern, und mit höllischem Gelächter schwand die Präsenz des Dämons dahin. Er kehrte in die Tiefen der Hölle zurück, mit dem in den Klauen, was er sich genommen hatte. Das Kreischen und
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