0399 - Merlin erwacht
Azteken, Maya… sie alle haben das Ritual des Menschenopfers durchgeführt. Bei manchen Feiern wurden die Opfer zu Tausenden abgeschlachtet. Kriegsgefangene. Freiwillige oder Menschen, die von Geburt an für den Altar des Sonnengottes bestimmt waren.«
Tendyke schluckte. »Ich weiß«, murmelte er. »Aber es ist etwas anderes, darüber zu lesen und zu hören, und es selbst zu erleben.«
Die beiden Männer starrten die makabre Prozession an, die sich über die großen Steinstufen der Tempelpyramide nach oben zum Altar bewegten.
Sechs junge Männer und sieben Mädchen. Sie waren nicht gefesselt, aber ihre Augen blickten stumpf. Zamorra vermutete, daß sie unter Drogen standen. Sie wurden von bewaffneten Tempelkriegern flankiert, die sie zum Altar hinauf geleiteten.
Etwas in Zamorra verkrampfte sich. Er empfand Entsetzen. In wenigen Minuten würden diese Menschen tot sein! Der Zauberpriester, dessen Gesicht von einer goldenen Edelsteinmaske besetzt war, würde ihnen das Herz aus der Brust schneiden und es seiner Gottheit präsentieren, in der großen Opferschale verbrennen und den Rauch zum Sonnengott emporsteigen lassen.
Tendykes rechte Hand schraubte sich um den Griff seines Revolvers, der im Holster steckte. Langsam schob der Abenteurer die Lederschlaufe zurück, die die Waffe festhielt.
Zamorra legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte fest zu. »Es hat keinen Sinn«, murmelte er. »Sie bringen uns schneller um, als du schießen kannst.«
»Aber ich kann es nicht zulassen«, keuchte Tendyke. »Ich kann es nicht, und ich werde es nicht. Das ist Mord. Und wenn es tausendmal zu dieser Inka-Religion gehört. Solange ich hier stehe und es verhindern kann, wird keiner dieser dreizehn Menschen abgeschlachtet.«
»Wir machen es anders«, sagte Zamorra. »Nicht mit Gewalt. Du verhinderst nichts, wenn du zum Amokschützen wirst. Wie viele Kugeln hast du im Colt? Sechs Stück. Spätestens nach dem sechsten Schuß spicken sie dich mit Speeren, aber als Stachelschwein siehst du nicht besonders gut aus.«
Tendyke starrte den Parapsychologen an. »Was hast du vor? Was willst du statt dessen machen? Den verdammten Priester höflich bitten, auf die Opferung zu verzichten? Er wird dir was husten. Er braucht diese Opfer für seine Beschwörung, oder was immer er vorhat. Glaubt er zumindest. Verdammt, das ist Schwarze Magie in ihrer teuflischsten Form! Bevor er sie tötet, schicke ich ihn zur Hölle.«
»Laß mich nur machen, und vor allem beruhige dich erst einmal«, warnte Zamorra. »Die Festung muß in den Dschungel versetzt werden, das können und dürfen wir nicht verhindern, weil es in unserer Gegenwart zu einem zu großen Paradoxon führen würde. Es ist zu unmittelbar. Wäre die Festung nicht dort, sondern die Blaue Stadt, wären wir jetzt nicht hier. Dann wäre die Festung nämlich zwangsläufig gar nicht entdeckt worden, nicht wahr? Wir können nur ein wenig an der Art und Weise drehen, wie sie versetzt wird.«
Tendyke starrte die dreizehn Menschen an, die jetzt in einer Reihe oben auf der vorletzten Stufe der Pyramide standen. Er hatte die Hand noch nicht vom Revolver genommen und spähte nach dem günstigsten Schußwinkel.
»Wenn du etwas tun willst, dann tu es schnell«, sagte er. »Gleich geht es da oben nämlich los.«
Die Priester stimmten einen beschwörenden Gesang an, leise zuerst, dann allmählich anschwellend. Die Zeremonie begann.
Der Zauberpriester hob beide Arme. In einer Hand hielt er den Opferdolch, dessen lange Klinge im Sonnenlicht funkelte. Dann senkte er die Arme wieder und winkte. Ein Priester trat vor, griff nach dem ersten Opfer in der Reihe und führte es zum Altar. Das Mädchen ging mit gesenktem Kopf. Unter dem Drogeneinfluß merkte es vielleicht nicht einmal, was hier wirklich geschah.
Zamorra preßte die Lippen zusammen und nickte.
»Dann wollen wir mal«, murmelte er. Er streckte die Hand aus.
Er rief sein Amulett zu sich!
***
Nicole war schon versucht, den Palast zu verlassen, änderte ihre Ansicht dann aber wieder. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Gefangenen sich in einem anderen Gebäude befanden. So, wie sie den Blauen Fürsten einschätzte, machte der sich die Arbeit nicht unnötig schwer. Er hatte zwar seine sklavischen Diener mit den Raubtierköpfen, die alles für ihn erledigten, was nicht unmittelbar mit Magie zu tun hatte, aber wenn er einen der Gefangenen herbeiholen wollte, um ihn umzubringen, würde er nicht lange darauf warten wollen.
Der Weg
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