0399 - Totentanz im Urnengrab
den Gräbern zu steigen und Rache an den Lebenden zu nehmen.
Seine Großmutter, bei der er einige Jahre bis zu deren Tod verbracht, hatte, war eine gläubige Frau gewesen. Sie hatte trotzdem dem Aberglauben nicht abgeschworen und ihrem Enkel von den lebenden Leichen erzählt, die sie angeblich schon gesehen hatte.
Dabei hatte sie diese Gestalten stets beschrieben. Manuel erinnerte sich noch genau, wie die knorrigen Hände der alten Frau die Umrisse der lebenden Leichen nachzeichneten, so daß er die Toten deutlich sehen konnte.
Sie waren so wie die Männer in der Gasse gewesen.
Manuel, den nichts so leicht erschüttern konnte, bekam das große Zittern.
Wie die in der Gasse!
Dieser eine Satz putschte ihn auf, und er wußte plötzlich Bescheid. Die Männer waren tot, aber sie lebten. Ein böser Zauber steckte in ihnen, der sie aus den Gräbern getrieben hatte, damit sie über die ahnungslosen Menschen herfallen konnten.
Sie nahmen weder Rücksicht auf Frauen noch auf Kinder. Jeden, den sie bekommen konnten, wollten sie töten.
Und sie rochen die Menschen. Das hatte die Großmutter des Jungen auch berichtet.
»Wenn sie die Menschen erst einmal gerochen haben, ist es meist zu spät«, hatte sie des öfteren hinzugefügt. Daran dachte Manuel, als er auf die drei Gestalten schaute, die sich seinem Versteck immer mehr näherten. Würden sie vorbeigehen?
Wären es Polizisten oder Soldaten gewesen, hätte er sein Versteck längst verlassen und wäre gerannt, denn laufen konnte Manuel.
Schneller als mancher Erwachsene. Den Ordnungshütern hatte er schon oftmals davonrennen müssen.
Diese unheimlichen Gestalten waren zwar langsam, und er hätte es auch geschafft, vor ihnen zu fliehen, aber da war eine Kraft, die dies einfach nicht zuließ.
Sie bannte den Jungen in seinem Versteck, und er zog sich ein wenig weiter zurück, damit sein Kopf nicht so schnell gesehen werden konnte.
Sie kamen noch näher.
Schlurfend, stolpernd, dabei einen Gestank ausströmend, der an süßliches Blut erinnerte, in das sich der Modergeruch alter Leichen gemengt hatte.
Sie waren da.
Der mit dem langen Poncho erreichte zuerst das Versteck des Jungen, diesen schmalen, kaum erkennbaren und leicht zu übersehenden Gang zwischen den beiden Hütten.
Bestimmt hätte die verfluchte Gestalt ihn auch übersehen, aber Zombies riechen Menschen.
Er wollte schon weitergehen, als er in der Bewegung verharrte, sich schwankend herumdrehte und schräg in die Tiefe starrte.
Manuel hatte den Kopf angehoben, der andere starrte nach unten, und ihre Blicke trafen sich.
Der Junge sah in das scheußliche Gesicht, erkannte sogar fehlende, dünne Hautstreifen und sah plötzlich die Hand, die gegen ihn stieß. Eine so schnelle Bewegung hätte Manuel dieser Gestalt nicht zugetraut, er hörte den dumpfen Schrei, der von den engstehenden Wänden der Häuser verschluckt wurde. Aber nicht der Zombie hatte ihn ausgestoßen, sondern Manuel, der zurückzuckte und doch spürte, wie sich die knochige Totenklaue in seinem Hemd verfing.
Vielleicht hätte ein anderer Junge aufgegeben und höchstens sein Schicksal verflucht, nicht so Manuel, der seit klein auf ums Überleben kämpfte.
Er warf sich weiter zurück, bevor die zweite Hand zufassen konnte. Sie griff ins Leere. Aber die fünf Finger der ersten hielten noch fest, und sie zerrissen den dünnen Stoff des Hemdes. Nie zuvor hatte sich Manuel über ein Geräusch wie dieses so gefreut. Es kam ihm vor wie die herrlichste Melodie. Er lag jetzt auf dem Rücken, kroch in dieser Haltung tiefer in die Gasse und sah dabei, daß sich auch die anderen zwei Zombies hinter dem ersten mit dem Poncho drängten.
Auch sie wollten ihn haben. Ihre Mäuler öffneten und schlossen sich, sie machten zum Zeichen der Vorfreude lautlose Kaubewegungen.
Manuel dagegen konnte sich nicht freuen. Zwar war er dem ersten entwischt, doch die ganze Sache hatte einen Nachteil. Der schmale Durchgang zwischen den Häusern war eine Sackgasse.
Und die Zombies drängten nach. Zuerst kam der mit dem Poncho. Zwischen seinen Fingern steckte noch Stoff. Als er die Faust öffnete, flatterte der Lappen zu Boden.
Manuel war auf die Füße gekommen. Je tiefer er in die Gasse eindrang, um so dunkler wurde es. Sie schloß mit einer Mauer ab, die die Grenze zur stinkenden Müllkippe bildete, über der stets ein Rauchpilz lag.
Wenn Manuel diesen Fluchtweg nahm, würde er mit gebrochenen Knochen am Rand der Kippe landen.
Er streifte an der Hauswand entlang,
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