04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Euch abhängen, Cillín«, erwiderte Fidelma. »Von jetzt an wird Eure Hand die Geschicke dieser Menschen lenken.«
»Das ist eine große Verantwortung«, stimmte der Mönch ihr zu. »Ich würde lieber zu den Barbaren pilgern, die das Wort Christi noch nicht vernommen haben, als die geistigen und seelischen Konflikte dieser Menschen hier zu lösen. Ich werde Schwester Lerben nach Ard Fhearta schicken, wo sie mit Älteren zusammensein und von ihnen lernen kann.«
»Arme Lerben. Sie war so stolz darauf, rechtaire zu sein.«
»Sie muß noch viel lernen, bevor sie andere anleiten oder über sie bestimmen darf.« Bruder Cillín streckte die Hand aus. » Vade in pace , Fidelma von Kildare.«
» Vale , Cillín von Mullach.«
Im Innenhof der Abtei gesellte sich Fidelma zu Eadulf.
»Was jetzt?« fragte der sächsische Mönch besorgt.
»Jetzt? Ich habe kein Verlangen, noch länger an diesem traurigen Ort zu verweilen. Ich kehre nach Cashel zurück.«
»Dann reisen wir zusammen«, stellte Eadulf hocherfreut fest. »Bin ich nicht als Emmissär im Auftrag des Theodor von Canterbury zu Euerm Bruder in Cashel unterwegs?«
Am Kai wurden sie von Ross bereits erwartet. Etwas abseits standen Schwester Brónach und Schwester Berrach, die sich auf ihren schweren Stecken stützte. Ganz offensichtlich wollten die beiden mit ihr sprechen. Fidelma entschuldigte sich bei Eadulf und Ross, ging hinüber und begrüßte sie.
»Ich wollte nicht, daß Ihr abreist, bevor ich mit Euch reden konnte«, begann Schwester Brónach zögernd. »Ich wollte Euch danken …«
»Es gibt nichts, wofür Ihr mir danken müßtet«, protestierte Fidelma.
»Außerdem wollte ich mich entschuldigen«, fuhr die Nonne mit der ernsten Miene fort. »Ich dachte, irgendwie hättet Ihr mich im Verdacht …«
»Es gehört zu meinem Beruf, jeden zu verdächtigen, Schwester, aber heißt es nicht: Vincit omnia veritas – Die Wahrheit besiegt alles?« antwortete sie.
Schwester Berrach schnaubte verächtlich und deutete hinüber zu den Gebäuden der Abtei.
»Solltet Ihr als Schlußwort nicht besser den Ausspruch des römischen Dichters Terenz wählen – veritas odium parit. «
Fidelmas Augen blitzten auf.
»Wahrheit zeugt Haß?« Sie warf einen Blick in Richtung Abtei. Dort war die Äbtissin in eine hitzige Debatte mit Bruder Cillín vertieft. »O ja. Ich fürchte, das liegt in der Natur der Sache: Viele Menschen versuchen, die Wahrheit voreinander zu verbergen, doch der weitaus schlimmere Haß entsteht, wenn jemand die Wahrheit vor sich selbst nicht mehr zugibt.«
Schwester Berrach beugte den Kopf. Das war ihre Art, Fidelmas Weisheit anzuerkennen.
»Ich möchte Euch danken, Fidelma. Wäret Ihr nicht gewesen, hätte man mich zu Unrecht beschuldigt und aus purer Voreingenommenheit verurteilt.«
»Heraklit sagte, daß Hunde die Menschen anbellen, die sie nicht kennen. In der Tat, Vorurteile entstehen aus Unwissen. Oft hassen die Menschen einander, weil sie sich nicht kennen. Ich kann Euch keinen Vorwurf daraus machen, aber Ihr habt selbst zu diesem Unwissen beigetragen, indem Ihr die Rolle, die die anderen Euch zugedacht hatten, brav gespielt habt, anstatt unerschütterlich Ihr selbst zu bleiben. Ihr gabt vor, einfältig zu sein, zu stottern und weder lesen noch schreiben zu können, und habt Euch nur in den wenigen Stunden, da niemand Euch beobachten konnte, den Büchern gewidmet.«
»Wir können Vorurteile nicht ausmerzen«, verteidigte sich Schwester Berrach.
»Wissen ist das einzige, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Schwester Comnat wird sich nach einer neuen Bibliotheksgehilfin umsehen. Wenn sie von Eurer Beschlagenheit wüßte, Schwester Berrach, würde sie Euch diesen Posten mit Sicherheit anbieten.«
Berrach antwortete mit einem breiten Lächeln.
»Dann will ich dafür sorgen, daß sie davon erfährt.«
Fidelma nickte und sagte dann mit einem Blick auf Brónach leise: »Eure Mutter kann stolz darauf sein, eine solche Tochter zu haben, Schwester Berrach.«
Über Schwester Brónachs ernste Miene huschte ein Ausdruck ehrfürchtigen Staunens.
»Ihr wißt sogar das?«
»Wenn Ihr Eure Mütterlichkeit nicht schon durch Eure Art, in Berrachs Nähe zu bleiben und ihr beizustehen, bewiesen hättet, dann wäre ich spätestens durch die Geschichten, die Ihr beide mir erzählt habt, darauf gekommen. Ihr spracht davon, daß Suanach Eure Mutter war und daß Ihr dieser Gemeinschaft beigetreten seid, während Suanach weiterhin den alten Traditionen
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