04 - Die Tote im Klosterbrunnen
mißbraucht hatte.«
»Ich vermute, dieser Prinz war Torcán?« warf Beccan ein.
»Richtig«, bestätigte Fidelma. »Torcán half Almu, in die Abtei zu fliehen – aus purer Habgier. Er verabredete mit ihr ein Treffen auf dem Hof des Bauern Barr. Ahnungslos kehrte Almu in die Abtei zurück. Was sollten Síomha und ihr Komplize tun, als sie unversehens auftauchte? Wir wissen, welches Schicksal sie ereilte. Torcán wartete unterdessen bei Barr auf sie. Ihr könnt Euch vorstellen, wie wütend er war, als sie nicht erschien. Wahrscheinlich dachte er, Almu hätte ihn hintergangen. Er wartete die ganze Nacht.
Als er tags darauf nichts von ihr hörte, verließ er Barr, kehrte jedoch kurze Zeit später wieder zurück. Er hatte erfahren, daß in der Abtei eine Tote entdeckt worden war. Torcán gab dem Bauern Geld, damit er hierher kam und vorgab, seine Tochter sei verschwunden und er wolle deshalb die Leiche sehen und sich vergewissern, ob sie womöglich die Tote war. Barr hatte gar keine Tochter, weder eine verschwundene noch sonst irgendeine. Er beschrieb Torcán die Leiche, und dieser erkannte sie anhand der Beschreibung – trotz des fehlenden Kopfes. Übrigens kann Barr das alles bestätigen.«
Alle reckten die Hälse und schielten zu dem Bauern, der gesenkten Hauptes dasaß und mit den Füßen scharrte.
»Torcán soll die Leiche anhand der Beschreibung erkannt haben und wir nicht?« höhnte Äbtissin Draigen. »Das kann ich nicht glauben.«
»Dennoch ist es wahr. Ihr habt Euch alle davon beirren lassen, daß Schwester Síomha steif und fest behauptete, die Tote sei auf gar keinen Fall ihre Freundin Almu. Zweifellos hatte Almu Torcán erzählt, daß ihre Freundin Síomha von dem Geheimnis wußte. Als er erfuhr, daß Síomha Almu nicht identifiziert hatte, kam ihm der Verdacht, daß sie versuchen könnte, den Schatz ganz allein zu finden.«
»Wollt Ihr damit sagen, daß Schwester Síomha Almu ermordet hat?« Äbtissin Draigen war erneut aufgesprungen – Beccans Ermahnungen schien sie vergessen zu haben.
»Wenn sie die Tat auch nicht eigenhändig ausführte, so war sie doch daran beteiligt. Mein Verdacht, Síomha könnte in die Sache verwickelt sein, gründete sich auf folgende Tatsachen: erstens war sie mit Almu sehr eng befreundet, behauptete jedoch, der Leichnam sei auf keinen Fall der ihrer Freundin. Es ist zwar möglich, daß sie die Leiche wirklich nicht erkannte, aber doch so unwahrscheinlich, daß wir es vernachlässigen können. Zweitens hat sie eindeutig gelogen, als sie Schwester Brónach erzählte, sie hätte kurz vor der Entdeckung der Toten Wasser aus dem Brunnen geschöpft. Almus Leichnam muß von Síomha und ihrem Komplizen noch vor Tagesanbruch im Brunnen versteckt worden sein, sonst wäre das Risiko viel zu groß gewesen. Der dritte Hinweis darauf, daß Síomha irgend etwas mit der Sache zu tun hatte, waren ihre falschen Zeitberechnungen während ihres Dienstes an der Wasseruhr – genau in jener Nacht.«
»Falsche Berechnungen?« fragte Draigen mit schneidender Stimme.
»Síomha galt als ausgesprochen pedantisch. In der Nacht, in der Almu ermordet wurde, stellte sie mehrere falsche Berechnungen an, die Schwester Brónach mir gegenüber einmal nebenbei erwähnte. Mit anderen Worten, irgendwann muß Síomha die Wasseruhr und den Turm verlassen und ihrem Komplizen bei der Beseitigung Almus geholfen haben. Almu stieg hinunter in die freigelegte Höhle – oder wurde dorthin gelockt. Sie hatte roten Schlamm unter den Fingernägeln, den gleichen Schlamm, der – wie man mir versicherte – auch ihren Körper bedeckte, bevor sie für das Begräbnis vorbereitet und gewaschen wurde. Síomha hatte die entscheidenden Zeitabschnitte verpaßt und mußte sie später irgendwie nachtragen. Schwester Brónach wurde auf diese Fehler aufmerksam, als sie am nächsten Morgen ihren Dienst antrat.«
»Warum kam Torcán nicht sofort in die Abtei, um nach dem goldenen Kalb zu suchen?« fragte Beccan.
»Wegen seiner Beteiligung an der Verschwörung mußte er für einige Tage zu den Kupferminen zurück. Als er dann wieder in Adnárs Festung eintraf und mit Schwester Síomha Kontakt aufnahm, glaubte er zunächst, er hätte es nur mit ihr zu tun, und verlangte von ihr eine Kopie des Buches mit allen erforderlichen Angaben. Er wußte allerdings nicht, um welches Buch es sich handelte. Síomha nutzte diesen Vorteil und schickte ihm eine Kopie der Chroniken von Clonmacnoise. Da sie außerdem befürchtete, er könnte sie
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