04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Höhle gelangt? Wie konnte das goldene Kalb in die Höhle hinein- oder von dort wieder hinausgebracht werden? Der Eingang, durch den sich Febal und Síomha Zutritt verschafften, war, wie Eadulf und ich herausfanden, nur gut einen halben Meter breit. Folglich müssen die Fässer durch einen anderen Zugang hineingelangt sein, durch den auch das goldene Kalb hinein- und hinausgeschafft wurde. Und noch etwas: die Fässer sind, ihrem Aussehen nach zu urteilen, noch keine hundert Jahre alt. Mit Sicherheit nicht älter, denn das Holz ist nicht verfault, innen noch recht trocken und hart genug, um bei jedem Zusammenstoß ein dumpfes Dröhnen hervorzurufen. Ich möchte eine gewagte Behauptung aufstellen: Derjenige, der die Fässer in die Höhle hineinbrachte, nahm das goldene Kalb mit hinaus.«
»Dann werden wir also nie erfahren, wer das goldene Kalb an sich nahm und wo es sich heute befindet?«
Fidelma schürzte die Lippen. Bevor sie antwortete, ließ sie den Blick bedächtig umherschweifen – von dem mächtigen Altarkreuz aus Gold zu den goldenen Ikonen, die an den Wänden der duirthech hingen. Dann wandte sie ihre spöttischen blauen Augen wieder dem Richter zu.
»Als Necht, die Reine, den Heiden Dedelchú und seine Gefolgschaft von hier verjagte und diesen Ort dem Neuen Glauben weihte, verschwand das goldene Kalb möglicherweise mit ihnen.«
Nach einer Pause erhob sich der Brehon von seinem Sitz.
»Die Vorverhandlung ist geschlossen. Wir sind heute Zeugen Eurer großen Klugheit geworden, Fidelma von Kildare«, bemerkte er anerkennend.
Fidelma zuckte bescheiden die Achseln.
»Vitam regit fortuna non sapientia« , antwortete sie.
»Wenn Glück und nicht Weisheit das menschliche Leben regiert«, erwiderte Beccan trocken, »dann ist Euch das Glück wirklich ausgesprochen hold.«
E PILOG
Am Ausgang der Kapelle traf Fidelma auf Bruder Cillín.
»Herzlichen Glückwunsch, Schwester. Ihr habt einen komplizierten Fall großartig gelöst.«
»Febal ist anscheinend nicht der einzige hier, der vom Glauben abgefallen ist«, bemerkte Fidelma spitzfindig.
Bruder Cillín folgte Fidelmas Blick und sah Äbtissin Draigen, die heftig auf Schwester Lerben einredete.
»Ach ja. Die Eitelkeit der Äbtissin. Vanitas vanitatum, omnis vanitas . Abt Broce hat mich ermächtigt, Äbtissin Draigen auf eine Pilgerreise zu schicken, damit sie wieder lernt, was wahre Demut ist. Unter meiner Führung wird Schwester Brónach die Leitung der Abtei übernehmen.«
»Ich hatte verstanden, daß Ihr in Gulbans Hauptstadt jenseits der Berge zu reisen gedenkt?«
»Richtig. Ich habe die Absicht, dort ein neues Kloster aufzubauen, und diese Abtei wird, wenn sie erst einmal von der Sünde des Stolzes befreit ist, von dort Anweisungen erhalten. Laßt uns beten, daß Äbtissin Draigen die Lektion annimmt und daraus lernt.«
»War es nicht Syrus, der sagte: Vincit qui se vincit – der siegt, der sich selbst besiegt?«
Bruder Cillín lachte.
»Wer sich selbst kennt und seine Probleme überwindet, kann im Leben viel erreichen. Das ist ein schöner Gedanke. Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät und Draigen ist nicht so eitel, daß sie die Absicht mißdeutet.«
»Werdet Ihr darauf bestehen, daß sie gehorcht? Man kann schließlich nicht davon ausgehen, daß sie lammfromm Eure Anweisungen befolgt.«
»Da ist noch die Sache, von der Ihr mir erzählt habt – wie sie Schwester Lerben zum Mord anstiftete. Womöglich wäre es sogar zu dem Verbrechen gekommen, hättet Ihr nicht beherzt eingegriffen und Schwester Berrach beschützt. Ich werde Draigen klarmachen, daß sie die Wahl hat, entweder in Demut zu gehorchen oder sich in Ros Ailithir vor einer Versammlung von Kirchenvertretern für ihr Verhalten zu verantworten.«
»In diesem Fall wird sie mit Sicherheit die Pilgerfahrt vorziehen. Draigen ist zwar eitel, doch hinter ihrem Hochmut verbirgt sie ein Leben, das zerstört wurde, bevor es richtig begann. Eitelkeit ist nur die Rüstung, die sie trägt, um sich vor dem Leben zu schützen.«
Cillín warf Fidelma einen schiefen Blick zu.
»Soll ich etwa Mitleid mit ihr haben? Sicher ist ihre Eitelkeit ihr Trost genug?«
»Es wäre traurig, wenn wir für Menschen, die Schiffbruch erlitten haben, kein Mitleid mehr empfinden würden.«
»Ich empfinde eher Mitleid mit ihrer Tochter, Schwester Lerben. Ihre Mutter wurde ihr zum Verhängnis, und das Verhalten ihres Vaters brachte ihr auch nur tiefes Leid. Welche Hoffnung gibt es denn für sie?«
»Das wird von
Weitere Kostenlose Bücher