04 - Die Tote im Klosterbrunnen
ganz aufgewickelt war; dann betätigte Schwester Síomha die Bremse.
Als sie zurücktrat, sah sie auf der sonst stets mißmutigen Miene ihrer Gefährtin einen merkwürdigen Ausdruck. Noch nie hatte jemand so entgeistert und entsetzt dreingeschaut wie jetzt Schwester Brónach, die auf den Überbau des Ziehbrunnens hinter Síomha starrte. Tatsächlich hatte sie niemals etwas anderes als ergebenen Gehorsam in der ausdrucklosen Miene der älteren Schwester wahrgenommen. Schwester Síomha drehte sich langsam um und fragte sich, worauf Brónach wohl so entsetzt starren mochte.
Was sie dann sah, ließ sie die Hand vor den Mund schlagen, als wolle sie einen Schreckensschrei unterdrücken.
An dem Seil, das normalerweise den Eimer trug, hing, an einem Knöchel festgebunden, der nackte Körper einer Frau. Er hing – weiß und glänzend von der Nässe des eiskalten Brunnenwassers – mit dem Kopf nach unten, so daß Oberkörper, Kopf und Schultern hinter der Umrandung des Brunnens ihren Blicken verborgen blieben. Dennoch ließen die Körperpartien, die sie sehen konnten – sie waren bleich und leblos, mit widerlichem rotem Schlamm beschmiert, den das Eintauchen in den Brunnen nicht hatte abwaschen können, und über und über mit Striemen bedeckt –, keinen Zweifel daran, daß es sich um eine Leiche handelte.
Schwester Síomha beugte langsam die Knie.
»Gott beschütze uns vor allem Bösen!« flüsterte sie. Dann trat sie einen Schritt vor. »Schnell, Schwester Brónach, helft mir, diese arme Unglückliche abzuschneiden.«
Schwester Síomha ging zum Brunnenrand, spähte hinein und wollte die Tote aus dem Brunnen heben. Mit einem schrillen Schrei und schreckensbleicher Miene wandte sie sich ab.
Neugierig trat Schwester Brónach vor und spähte ebenfalls in die Tiefe. Im Dämmerlicht sah sie, daß dort, wo der Kopf der Leiche hätte sein sollen, nichts war. Man hatte die Tote enthauptet. Hals und Schultern – oder das, was davon übrig war – waren mit dunklem Blut beschmiert.
Sie wandte sich unvermittelt ab und würgte, um den aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken.
Schwester Brónach begriff, daß Síomha zu bestürzt war, um weitere Entscheidungen zu treffen. Also riß sie sich zusammen, bezwang ihren Abscheu und versuchte, die Leiche zum Rand des Brunnens zu ziehen, doch war dieses Vorhaben für sie allein nicht zu bewerkstelligen.
Sie blickte rasch zu Schwester Síomha hinüber.
»Ich brauche Eure Hilfe, Schwester. Wenn Ihr die Leiche festhaltet, werde ich das Seil durchschneiden, an dem die Unglückliche hängt«, gab sie behutsam Anweisung.
Schwester Síomha schluckte heftig und versuchte, ihre Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Dann nickte sie und faßte den kalten, nassen Körper widerwillig um die Taille. Sie konnte ihren Ekel nicht verhehlen, als sie das starre, leblose Fleisch berührte.
Mit einem kleinen Messer, das die Schwestern der Abtei stets bei sich trugen, durchschnitt Brónach die Fesseln, mit denen der Knöchel der Toten am Brunnenseil befestigt war. Dann half sie Schwester Síomha, den kopflosen Körper über die niedrige Schutzmauer des Brunnens zu hieven und auf den Boden zu legen. Eine Weile starrten die beiden Nonnen auf den Leichnam – unschlüssig, was als nächstes zu tun sei.
»Ein Gebet für die Tote«, murmelte Brónach voller Unbehagen. Gemeinsam begannen sie zu beten, ohne sich jedoch der Bedeutung der Worte bewußt zu werden. Danach verfielen sie in längeres Schweigen.
»Wer konnte so etwas bloß tun?« flüsterte Schwester Síomha schließlich.
»Es gibt viel Böses in der Welt«, erwiderte Schwester Brónach philosophisch. »Aber eine zweckdienlichere Frage wäre jetzt – wer ist die arme Unglückliche? Es handelt sich um den Körper einer jungen Frau, fast noch ein junges Mädchen.«
Endlich gelang es Schwester Brónach, den Blick von der blutigen, übel zugerichteten Stelle abzuwenden, an der der Kopf hätte sitzen müssen. Der Anblick der blutigen Masse wirkte auf sie faszinierend und abstoßend zugleich. Es handelte sich eindeutig um den Körper einer jungen und vor kurzem noch gesunden Frau, die gerade erst der Pubertät entwachsen war. Die einzige Verunstaltung, von dem fehlenden Kopf einmal abgesehen, war eine Wunde in der Brust. Oberhalb des Herzens zeigte sich ein bläulicher Bluterguß und, bei näherem Hinsehen, eine deutliche Stichwunde, wo die Spitze einer scharfen Klinge oder eines ähnlichen Tatwerkzeuges tief ins Herz gedrungen war. Die Wunde hatte
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