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04 - Die Tote im Klosterbrunnen

04 - Die Tote im Klosterbrunnen

Titel: 04 - Die Tote im Klosterbrunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Tremayne
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Wachablösung an der Wasseruhr, denn keine Zeitnehmerin durfte diese beschwerliche Aufgabe länger als ein cadar ausüben.
    Brónach fiel ein, wie sehr Äbtissin Draigen Nachlässigkeit verabscheute, und sie gab sich einen Ruck und sah sich nach dem Eimer um. Er stand nicht an seinem üblichen Platz. Erst jetzt bemerkte sie, daß das Seil bereits im Brunnen hing. Ärgerlich runzelte sie die Stirn. Jemand hatte den Eimer an den Haken gehängt und hinuntergelassen, ihn dann jedoch aus unerfindlichen Gründen nicht wieder hochgezogen. Eine derartige Vergeßlichkeit war unverzeihlich.
    Seufzend unterdrückte Brónach ihren Unmut und packte die Kurbel. Sie fühlte sich eiskalt an und erinnerte sie an die Kälte des winterlichen Tages. Zu ihrer Überraschung ließ sie sich so schwer drehen, als sei ein Gewicht an ihr befestigt. Brónach unternahm einen erneuten Versuch, doch trotz Aufbietung ihrer ganzen Kraft ließ sich die Kurbel kaum bewegen, und nur langsam, unendlich langsam, konnte sie das Seil aufwickeln.
    Nach einer Weile hielt sie inne, blickte sich um und hoffte, eine ihrer Gefährtinnen in der Nähe zu entdecken, damit sie sie um Unterstützung bitten könnte. Noch nie war ihr ein Eimer voll Wasser so schwer erschienen wie dieser. Wurde sie etwa krank? Ließen ihre Kräfte nach? Nein, sie fühlte sich gesund und stark wie eh und je. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die fernen Berge und schauderte, allerdings nicht vor Kälte, sondern vor Angst wegen ihrer abergläubischen Gedanken. Wollte Gott sie für ihre ketzerischen Betrachtungen über die alte Religion bestrafen?
    Ängstlich schaute sie zum Himmel empor, bevor sie sich, ein Bußgebet murmelnd, wieder zu ihrer Arbeit beugte.
    »Schwester Brónach!«
    Eine hübsche junge Nonne eilte von den Gebäuden der Abtei herüber in Richtung Brunnen.
    Schwester Brónach stöhnte insgeheim, als sie Schwester Síomha erkannte, die tyrannische rechtaire oder Verwalterin der Gemeinschaft, ihre unmittelbare Vorgesetzte. Schwester Síomhas Auftreten paßte ganz und gar nicht zu den großen Unschuldsaugen in ihrem schönen Gesicht. Trotz ihrer Jugend galt Síomha unter den Schwestern als strenge Aufseherin, und das aus gutem Grund.
    Schwester Brónach hielt erneut inne und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Kurbel, um sie in ihrer Position zu halten. Dem deutlichen Mißfallen der gerade Eingetroffenen begegnete sie mit höflicher Miene. Schwester Síomha blieb stehen und rümpfte mißbilligend die Nase.
    »Ihr seid spät dran mit dem Wasser für unsere Äbtissin, Schwester Brónach«, schimpfte die jüngere Schwester. »Sie mußte mich extra losschicken, um Euch zu erinnern, wie spät es ist. Tempori parendum. «
    Brónachs Miene blieb unverändert.
    »Ich weiß sehr wohl, wie spät es ist«, erwiderte sie in unterwürfigem Tonfall. Daß ihr jemand erzählen wollte, ›man müsse der Zeit gehorchen‹, wo doch ihr ganzes Leben von den Schlägen der Wasseruhr bestimmt wurde, wirkte selbst auf eine so ängstliche Person wie sie als Provokation. Eine solche Erwiderung aus ihrem Munde bedeutete die höchstmögliche Auflehnung, zu der sie fähig war. »Ich kann den Eimer nicht hochziehen. Irgend etwas scheint ihn zu blockieren.«
    Schwester Síomha rümpfte erneut die Nase, war sie doch überzeugt, Schwester Brónach suche nur nach einer Ausrede für ihre Säumigkeit.
    »Unsinn. Ich habe heute Vormittag Wasser geholt und hatte keinerlei Schwierigkeiten mit der Kurbel. Der Eimer läßt sich ganz leicht hochziehen.«
    Sie trat vor, und schon ihre Körpersprache genügte, damit die ältere Schwester ihr Platz machte. Ihre zarten und doch kräftigen Hände ergriffen die Kurbelstange und drückten dagegen. Verwundert blickte sie auf, als sie den Widerstand spürte.
    »Ihr habt recht«, räumte sie voller Staunen ein. »Vielleicht schaffen wir beide es zusammen. Kommt und drückt, wenn ich’s Euch sage.«
    Nun versuchten sie es mit vereinten Kräften, doch obwohl sie sich auf das Äußerste anstrengten, begann sich der Griff nur langsam zu drehen. Sie mußten häufig innehalten und Atem schöpfen, der dann als weiße Wölkchen in die kristallklare Luft stieg und verschwand. In die Vorrichtung war eine Bremse eingebaut, um das Seil, wenn es ganz hochgezogen war, befestigen zu können. Man konnte so den Eimer vom Haken nehmen, ohne befürchten zu müssen, daß sein Gewicht ihn wieder in den Brunnen hinuntersausen ließ. Die beiden Schwestern zerrten und zogen, bis das Seil

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