04 - komplett
ohne sich lange mit dem Port in Gesellschaft der Herren aufzuhalten, und setzte sich neben Cassie auf das Sofa in der Nähe des Fensters.
„Vergeben Sie uns diesen ermüdenden Abend“, sagte er trocken, „aber die Damen sind Mamas nächste Nachbarinnen. Es wäre unverzeihlich gewesen, sie nicht einzuladen. Allerdings versichere ich Ihnen, dass die Gesellschaft morgen sehr viel anregender sein wird. Ich habe einige meiner Bekannten eingeladen. Wir werden uns die Zeit mit Kartenspiel und Musik vertreiben.“
„Sie sind sehr freundlich, aber ich langweile mich überhaupt nicht“, meinte Cassie.
„Die Freunde Ihrer Mama mögen alt sein, dennoch finde ich sie interessant, Mylord.
Sie wissen viele Geschichten zu erzählen, wenn man nur bereit ist, ihnen zuzuhören.“
„Sicher, allerdings habe ich sie schon sehr oft gehört“, gab Vincent zu bedenken. „Für Sie ist es das erste Mal, Miss Thornton, also verurteilen Sie mich nicht vorschnell. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Sie sie nach dem fünfzigsten Mal weniger fesselnd finden werden.“
„Da mögen Sie natürlich recht haben, Mylord“, erwiderte Cassie mit einem Augenzwinkern. „Wir Damen sind es allerdings gewohnt zuzuhören – selbst wenn wir nicht immer fesselnd finden, was wir hören.“
„Das ist also keiner der besagten Vorteile?“
Cassie lächelte, antwortete aber nicht. Wenig später wandte Vincent sich der Schwester des Vikars zu. Amüsiert fiel Cassie auf, wie aufmerksam er der Dame zuhörte. Wirklich, an seinen Manieren war nichts auszusetzen. Trotzdem erstaunte es sie nicht besonders, dass er sich nach einer Weile entschuldigte.
Höchstens ein oder zwei Mal erlaubte sie sich zu überlegen, was Vincent jetzt wohl tun mochte. War er womöglich im Billardzimmer? Es entrang sich ihr auch nur ein einziges Mal ein leiser Seufzer, selbst als ihre Gesprächspartnerin ein Thema aufgriff, das sie gerade vor zehn Minuten eingehend erörtert hatten.
„Sie freuen sich gewiss auf Ihren Aufenthalt in London“, sagte Miss Simpson. „Nun, Sie werden in den besten Händen sein, Miss Thornton. Lady Longbourne kennt sich gut aus. Und was ihren Sohn angeht ... was für ein gut aussehender Mann er doch ist, nicht wahr? Und so charmant.“
„Oh ja“, stimmte Cassie zu. „Ein vollkommener Gentleman.“
„Oh, in dieser Hinsicht ist der junge Vincent nicht, was er zu sein scheint“, meinte die weise alte Jungfer lächelnd. „Aber er besitzt ein gutes Herz. Man kann sich gewiss auf ihn verlassen. Das war schon immer so, trotz all der Streiche, die er sich erlaubte.“
Jetzt wurde es wirklich interessant! Cassie lauschte wie gebannt.
„Natürlich hat mein Bruder nie wahrhaben wollen, dass es Vincent war, der damals ein Damenmieder an die Spitze des Kirchturms gehängt hat, aber ich habe den frechen Ausdruck in den Augen des Jungen gesehen und wusste Bescheid. Sein Stiefvater hätte ihn verprügelt, hätte er es gewusst, also habe ich natürlich nie ein Wort zu jemandem gesagt.“
Cassie lächelte. „Wirklich sehr aufschlussreich. Vielen Dank für Ihr Vertrauen.“
„Ich dachte, Sie möchten es vielleicht wissen“, sagte die alte Dame mit einem entzückten Kichern. „Vielleicht wird es ja einmal nötig sein, ihm mit diesem Wissen einen kleinen Dämpfer aufzusetzen.“
„Stimmt.“ Cassie lachte. „Vielleicht wird es ja einmal nötig sein.“
4. KAPITEL
Cassie genoss bereits seit fast einer Stunde ihren Spaziergang im weitläufigen Garten von Carlton Manor, als sie das erste Mal das leise Wimmern hörte. Wieder war es ein warmer Tag. Sarah hatte es vorgezogen, es sich im Haus mit einem Buch gemütlich zu machen, um der Hitze zu entgehen. Also war Cassie allein losgegangen, um die schattigen, von Bäumen gesäumten Wege zu erkunden. Schließlich war sie an einen Bach gekommen und war ihm bis in den kleinen angrenzenden Wald gefolgt.
Einige Male war ihr gewesen, als spürte sie jemanden hinter sich, doch sie hatte den Gedanken verworfen. Wenn ihre Miene ernst wirkte, so nur, weil sie an Lord Carlton denken musste. Sein Verhalten ihr gegenüber hatte sich in letzter Zeit verändert. Er war nicht direkt kühl geworden, aber er hielt Abstand zu ihr, und das betrübte sie.
Könnte sie ihn mit etwas gekränkt haben? Sie hielt es eigentlich nicht für möglich, war aber dennoch besorgt.
Doch das Wimmern riss sie aus ihren Gedanken, und sie lauschte aufmerksam.
Irgendjemand – ein Mensch oder ein Tier – litt Schmerzen. Cassie blieb
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