04 - komplett
als Jacks Freund. Die Warmherzigkeit, mit der sie ihn manchmal ansah, war etwas, das er noch nie erlebt hatte. Durch Cassie eröffnete sich ihm eine ganz neue Welt, die zu erforschen er kaum erwarten konnte.
Doch wenn sie irgendwann die Wahrheit erfuhr? Nicht nur die alberne Sache mit dem Losen, sondern die schreckliche, beschämende Wahrheit, die sein Leben nun schon seit so langer Zeit überschattete und ihn davon abgehalten hatte, sich ihr vorher zu nähern. Seit Monaten plagten ihn schwere Schuldgefühle. Oft erwachte er aus einem Albtraum, schweißgebadet und mit einem bestimmten Namen auf den Lippen. Und auch im Wachen gab es keinen Moment, da er sich nicht gewünscht hätte, er könnte die Vergangenheit ungeschehen machen. Ganz besonders jetzt, da Cassie ihm so viel zu bedeuten begann.
Was würde die Frau, die er so bewunderte und mochte, empfinden, wenn sie entdeckte, dass er für den Tod ihres geliebten Bruders verantwortlich war? Dass Jack ohne ihn vielleicht noch am Leben gewesen wäre? Dann würde sie ihn gewiss nicht so vertrauensvoll anlächeln. Sie würde sich voller Abscheu und Entsetzen von ihm abwenden – und wie könnte er das ertragen?
6. KAPITEL
Die folgenden zehn Tage vergingen wie im Flug, da jeder Tag mit den vergnüglichsten Unternehmungen angefüllt war. Morgens fuhren sie für gewöhnlich mit dem Wagen in den Park oder gingen dort spazieren, besuchten die Leihbibliothek oder machten Einkäufe. Am Nachmittag statteten sie Bekannten und Freunden Lady Longbournes einen Besuch ab oder besichtigten Sehenswürdigkeiten in der Stadt.
Recht häufig begleitete Vincent Cassie und Sarah an den Nachmittagen, und manchmal fuhr er mit Cassie allein in seinem Wagen aus. Wieder gingen sie vertraut miteinander um, und Cassie beschloss, sich damit zufriedenzugeben.
Die Erinnerung an den verächtlichen Blick in den Augen La Valentinas wollte sie einfach nicht zur Ruhe kommen lassen. Cassie ahnte, was diese welterfahrene Frau von der kleinen Landpomeranze halten musste, die Carlton zu seiner Gattin machen wollte. Immerhin war die Opernsängerin eine Schönheit. Wie könnte also ein Mann ausgerechnet sie, Cassie, einer solchen Frau vorziehen?
Allerdings hatte Vincent durch sein Benehmen mehr als deutlich gemacht, dass ihm seine Geliebte nicht wichtig war, und Cassie hatte wirklich versucht, nicht eifersüchtig zu sein. Ich darf nicht zu viel erwarten, sagte sie sich. Warum sollte Vincent sich schließlich ausgerechnet in sie verlieben? Er brauchte sie nicht zu lieben. Es reichte, dass er sie gern mochte. Das würde genügen für eine erfüllte, angenehme Ehe.
„Es ist wirklich amüsant“, sagte Cassie zu Sarah, während sie durch den Park schlenderten, dicht gefolgt von einer ihrer Zofen, da es sich für junge Damen nicht ziemte, allein auszugehen. „Die Menschen müssen ständig Geschichten erfinden.
Nun glaubt man tatsächlich, Vincent und ich seien uns schon seit langer Zeit versprochen gewesen.“
„Und das stört dich nicht?“
„Lieber Himmel, nein!“ Cassie lachte. „Warum sollte es denn?“
„Du hast recht“, stimmte Sarah zu. „Es ist doch offensichtlich, dass du Lord Carlton viel bedeutest. Sonst hätte er nicht so bald um dich angehalten.“
„Ja, ich glaube ...“ Cassie unterbrach sich und schnappte entsetzt nach Luft, als sie den Mann erkannte, der auf sie zukam. „Oh nein! Was kann ich nur tun, um ihm zu entkommen? Jetzt hat er uns gesehen. Was für ein Ärger ...“
„Wer?“ Sarah sah sich bestürzt um. „Meinst du den Mann in dem schlecht sitzenden braunen Rock und den grauen Reithosen?“
„Wer sonst würde sich in einem solchen Aufzug in einem Londoner Park sehen lassen?“, stöhnte Cassie. „Es ist Kendal Thornton. Vaters Cousin.“
Sie wirkte so bestürzt und als stünde sie im Begriff, Reißaus zu nehmen, dass Sarah lachen musste. „Du kannst doch nicht vor ihm davonlaufen, selbst wenn er es ein wenig an Schliff vermissen lässt. Er ist immerhin dein einziger Verwandter. Du wirst ihn wenigstens begrüßen müssen, Liebes.“
Im nächsten Moment war Sir Kendal bei ihnen, offensichtlich entschlossen, sie nicht entkommen zu lassen.
„Guten Morgen, Miss Thornton.“ Er runzelte so streng die Stirn, dass Cassie fand, er ähnelte einer schlecht gelaunten Bulldogge. „Sind wirklich Sie es? Ich gestehe, ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen.“
„Ach, tatsächlich?“, erwiderte Cassie ironisch. „Ich kann mir nicht erklären, warum Sie irgendetwas, das ich
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