04 - komplett
langen Strohhalm, den er gezogen hatte. Hätte er damals die Geistesgegenwart besessen, ihn einfach kürzer zu machen, wäre er jetzt an Carltons Stelle. Es war zu ärgerlich! Dabei hätte er Miss Thorntons Vermögen so gut gebrauchen können. Von der Erbtante hatte er aber schließlich nichts ahnen können. Genauso wenig wie die anderen. Bracknell runzelte unwillkürlich die Stirn.
Als Jacks bester Freund war Carlton vielleicht von ihm ins Vertrauen gezogen worden.
Die Vorstellung gefiel ihm gar nicht. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass man ihn hintergangen hatte. Als der Tanz endete, machte er sich davon, um sich zu Harry zu gesellen und einen Drink zu genießen.
„Was sollte eigentlich der ganze Unsinn mit dem Losen“, meinte er mürrisch, „wenn sie Vinnie sowieso schon die ganze Zeit über versprochen war?“
„Es ... es war zwar so vereinbart, aber nicht endgültig“, versuchte Harry, sich herauszureden. „Ich denke, beide hatten die Möglichkeit, von der Abmachung zurückzutreten, wenn sie gewollt hätten. Vinnie war bis heute Nachmittag gar nicht sicher, was er tun würde.“
„Du meinst, er hat jetzt erst um sie angehalten?“, fragte Freddie Bracknell verblüfft.
Jack war doch schon vor Monaten gefallen. „Sehr seltsam, oder?“
„Nein, überhaupt nicht“, sagte Harry hastig, sich nur allzu bewusst, dass er wieder zu viel ausgeplaudert hatte. „Er wollte nur sichergehen, dass sie wirklich zueinanderpassen, mehr nicht.“
„Dann hätte er uns anderen auch eine Chance gegen können“, murrte Bracknell. „Es sähe Vinnie wieder ähnlich, den Kürzeren zu ziehen, nur um dann herauszufinden, dass das Mädchen eine Erbin ist. Verteufeltes Glück, wenn du mich fragst.“
Harrys Miene verdüsterte sich. „Falls du andeuten willst, hier ginge etwas nicht mit rechten Dingen zu ...“
Bracknell wusste, wann es Zeit war einzulenken. Zwar konnte Harry nicht so gut mit den Fäusten umgehen wie sein Bruder, aber er war ein großartiger Schütze. „Nein, nein, es war nur so ein Gedanke. Miss Thornton hat in jedem Fall schon seit Jahren auf den Antrag gewartet. Wenn ich richtig verstanden habe, waren sie bereits befreundet, als sie sich noch im Schulzimmer befand.“
Davon hörte Harry jetzt zum ersten Mal, aber er nickte nur und ließ Bracknell glauben, was er wollte. Sollte sich dieses Gerücht herumsprechen, würde es ja wohl hoffentlich nichts schaden.
Bevor der Abend vorüber war, meinte die eine Hälfte der Gäste, Cassie und Vincent wären sich schon als Kinder versprochen worden, und die andere, sie gingen eine Liebesheirat ein. Cassie ahnte nichts von dem Klatsch, in dessen Mittelpunkt sie stand. Sie tanzte mit Begeisterung, verzaubert von der Musik und dem Glitzern der Juwelen, die im Licht der Kerzenleuchter funkelten. Es war eine märchenhafte Nacht, in der es keinen Platz für Trauer gab und in der alles traumhaft schön und wundervoll war. Cassie wünschte, sie würde nie vorübergehen.
Auch Sarah ließ keinen einzigen Tanz aus. Jetzt tanzte sie bereits zum dritten Mal mit Harry Longbourne! Was vielleicht ein wenig unklug von ihr war. Cassie überlegte, ob sie ihre Freundin warnen sollte, doch dann vergaß sie alles, als Carlton sie um den Tanz vor dem Souper bat.
Ihr strahlendes Gesicht entlockte ihm ein amüsiertes Lächeln. „Unterhältst du dich gut, Cassie?“
„Oh, sehr sogar“, beteuerte sie eifrig. „Ich wünschte, ich könnte ewig weitertanzen.“
„Am Ende würdest du doch ermüden, meinst du nicht?“
„Vielleicht. Aber nicht heute Abend.“ Sie lachte glücklich. „Ich habe mit so vielen deiner Freunde getanzt.“ Sie erwähnte einige Namen und hielt inne, als sie den seltsamen Ausdruck in seinen Augen bemerkte. „Stimmt etwas nicht?“
„Nein, beunruhige dich nicht. Wollen wir jetzt zum Souper gehen?“
Cassie legte ihm die Hand auf den Arm und ließ den Blick bewundernd auf ihrem Verlobten ruhen. Ihrer Meinung nach sah er heute Abend umwerfend aus in einem perfekt sitzenden blauen Frackrock, der seine männliche Gestalt so gut zur Geltung brachte.
Ihr war aufgefallen, dass seine Stimmung bei der Erwähnung von Freddie Bracknell –
oder vielmehr Captain Bracknell, um den Mann bei seinem Rang zu nennen –
umgeschlagen war. Sie wusste, dass sie gemeinsam in Frankreich gewesen waren und im selben Regiment wie Jack. Was also ging in Vincent vor?
„Hegst du eine Abneigung gegen Captain Bracknell?“, fragte sie.
„Lieber
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